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Kirsten (36) ist das, was man gemeinhin als „toughe Mudda“ bezeichnet. Zumindest in ihrer Heimatstadt Mannheim. In Berlin hat die PR-Managerin den passenden Daddy dazu gefunden und mit ihm eine Gefühls-Achterbahnfahrt hinter sich, die sich gewaschen hat. In der 8. Woche ihrer 2. Schwangerschaft bekam Kirsten nämlich einen Anruf von ihrer Frauenärztin. In Kirstens Blut wurden Antikörper gegen das Antigen KELL festgestellt. Die Ärztin sagte, Kirsten solle am übernächsten Tag zu ihr in die Praxis kommen, um die Situation zu besprechen – ohne googlen. Kirstens Mann war da nicht so standhaft und hat noch am selben Tag die Suchmaschine gemolken. Was da stand, hat ihnen viele schlaflose Nächte bereitet…  

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Liebe Kirsten, versuch mal bitte für Laien zu erklären, was KELL überhaupt bedeutet und wann es auftritt? Denn Deine erste Schwangerschaft verlief ja völlig normal oder?

KELL ist ein Antigen, ein Merkmal im Blut, das erst seit 1996 in der Medizin bekannt ist. Mein Mann ist Blutgruppe 0 positiv und vererbt zusätzlich das Antigen KELL zu 100%. (In Jakobs Familie ist tatsächlich der seltene Fall eingetreten, dass Vater und Mutter KELL positiv sind.) Das heißt, mein erstes Kind hat es ebenfalls geerbt. Meine erste Schwangerschaft verlief komplett unkompliziert, da das Blut von Kind und Mutter erst bei der Geburt zusammen kommen. In diesem Moment habe ich bei der Geburt meines ersten Kindes, Lukas, die Antikörper gegen KELL gebildet. Mit diesen Antikörpern ist dann aber erst mein zweites Kind, Joscha, in Berührung gekommen. 

Was hat das für dich und Joscha bedeutet?

Für mich war die Diagnose medizinisch unbedenklich. Allerdings greifen meine Antikörper die roten Blutkörperchen des Babies an und zerstören diese. Das führt zu einer Blutarmut beim Ungeborenen. Die Blutarmut löst Wasseransammlungen in den Organen aus, was die Gesundheit des Babies schwer beeinträchtigen kann. Uns wurde gesagt, dass das Baby entweder die 20. Woche gar nicht erreicht und falls doch, es ab der 20. Woche wahrscheinlich mehrere Bluttransfusionen im Mutterleib brauchen wird. Ich solle mich darauf einstellen, dass das Kind spätestens in der 32. Woche per Kaiserschnitt geholt werden müsse.

Puh. Ok, man weiß, man kann etwas tun, aber nicht, ob die Therapie auch anschlägt, oder?

Man kann erstmal nichts tun bis zur 20. Woche. Das ist das Schlimme. Danach kann man transfundieren, was lebensgefährlich für das Baby ist (beim Eingriff kann es verletzt werden) und es gibt keine erprobte Therapie. Meine Infusionen waren ein Versuch und beim KELL Fall in Deutschland nicht erprobt.

Wie schafft man es, sich nicht durch Vermutungen unter Druck setzen zu lassen?

Am Anfang war das alles sehr schwer. Ich musste mich sehr zusammen reißen, um nicht durchzudrehen. Dabei hat mir mein erstes Söhnchen Lukas sehr geholfen. Er hat mich abgelenkt. Ab der 15. Woche habe ich das Kind täglich gespürt und ahnte so langsam, dass es ihm gut geht. Er hat sich so viel bewegt, da dachte ich immer, da kann nur alles gut sein. Trotzdem haben die ganzen Ärzte mich natürlich immer wieder verunsichert und jeder Gang zum Ultraschall war mit Angst verbunden.  

Wird KELL regulär getestet oder gibt es bestimmte Werte, die dann genauer untersucht werden?

Bei Feststellung der Schwangerschaft wird so um die 8. Woche rum Blut abgenommen beim Frauenarzt. Dieses Blut wird standardmäßig auf verschiedene Antikörper getestet. Seit 1996 auch auf KELL. Wir haben uns kurz nach dem Termin bei meiner Frauenärztin einen Termin beim Spezialisten in der Transfusionsmedizin an der Charite gemacht. Dort wurde mir und meinem Mann Blut abgenommen und genauer getestet. Kurz danach hatten wir die komplette Diagnose: Mein Mann vererbt homogen (100%), beide Kinder haben KELL.

Wie häufig tritt das auf rein statistisch? 

Etwa um die 9% der Weltbevölkerung sind KELL positiv. Die meisten vererben das heterogen (zu 50%), so dass sich KELL nicht so schnell weiter ausbreitet. Unser Fall ist sehr viel seltener.

Hast du auch Transfusionen bekommen, bzw. das Baby im Bauch? 

Um das Baby vor meinen Antikörpern zu schützen, habe ich ab der 15. Woche wöchentlich Infusionen bekommen. Ich hing jeden Mittwochnachmittag 3-4 Stunden am Tropf und habe 600 ml eines Antikörper-Cocktails intravenös bekommen. Das sollte das Gleichgewicht in meinem Blut neu verteilen und mein Immunsystem von den KELL Antikörpern ablenken. Diese Infusionstherapie kostet mehrere 100.000 Euro und wir hatten Glück, dass meine Krankenkasse die Kosten übernommen hat, obwohl der Professor keine Beweise vorlegen konnte, dass diese Therapie in unserem Fall wirklich hilft. Er hatte noch keine KELL Patientin damit behandelt, weil die Krankenkassen die Kosten nie übernommen hatten. Wir hatten ein Riesenglück. Als der Anruf von meiner Krankenkasse, der Barmer, kam, stand ich heulend in einem Konferenzraum bei der Arbeit und habe Gott und der netten Dame gedankt.

In den meisten Fällen muss man dem ungeborenen Kind Blut transfundieren. Das heißt, der Arzt sticht durch die Bauchdecke in die Fruchtblase und transfundiert das Blut in die Nabelschnur. Bei mir wäre das problematisch gewesen, weil ich eine Hinterwand-Plazenta hatte und man also erstmal um das Kind herum kommen muss mit der Nadel, um das Blut in die Nabelschnur zu spritzen. Das Problem ist auch, dass sich die Kinder ja viel bewegen. Da besteht dann die Gefahr, dass das Baby mit der Nadel verletzt wird. Aber diese Bluttransfusionen im Mutterleib sind heutzutage tatsächlich Standard und in der Charité gibt es Spezialisten, die sowas fast täglich machen. Das ist echt verrückt. 

Hat Joscha Bluttransfusionen bekommen?

Im Mutterleib nicht. Kurz nach der Geburt hatte Joscha eine leichte Anämie. Bis er 6 Monate alt war, musste er alle 2 Wochen zur Blutabnahme. So lange halten sich die mütterlichen Antikörper in seinem Blut. Das ganze Köpfchen war übersät mit Einstichen. Zum Glück hat er sich schnell gefangen und brauchte auch nach der Geburt kein Blut.

Wie kritisch war es wirklich? 

Die Konzentration der Antikörper in meinem Blut war schon in der 9. Woche sehr hoch. Wenn wir die Infusionen nicht bekommen hätten, hätte mein Baby eventuell nicht überlebt, oder es hätte möglicherweise mehrere Bluttransfusionen im Mutterleib gebraucht. 

Wie überwacht man die Konzentration der Antikörper? Und was für Auswirkungen hat die Überwachung?

Mir wurde jede Woche Blut abgenommen und der Antikörper Titer bestimmt. Zusätzlich war ich alle 2 Wochen bei der Feindiagnostik in der Charite. Dort hat man die Blutfließgeschwindigkeit in der Kopfvene beobachtet. Wenn das Blut zu schnell fließt, hat das Kind eine Anämie (Blutarmut). Außerdem wurden die Organe auf Wasseransammlungen überprüft. Diese engmaschige Überwachung hatte zur Folge, dass man viel mehr entdeckt als bei einer Nicht-Risikoschwangerschaft. Zum Beispiel wurde uns in der 22. Woche gesagt, das Baby hätte unabhängig von KELL jetzt auch noch 2 Zysten im Kopf, die auf Trisomie hinweisen. Mir wurde eine Fruchtwasseruntersuchung empfohlen. Zum Glück haben wir uns dagegen entschieden, denn 2 Wochen später waren die Zysten wieder verschwunden. Das kann immer mal vorkommen und eine normale Schwangere bemerkt das gar nicht und wird nicht unnötig verrückt gemacht. 

Wurdet Ihr direkt gut aufgeklärt? Wie wurde die Schwangerschaft beobachtet? 

Meine Frauenärztin kannte sich mit unserem Fall nicht aus. Ihr war das alles neu, das hat sie ehrlich zugegeben. Wir hatten Glück, dass wir in Berlin wohnen und über kleine Umwege bei Professor Salama in der Transfusionsmedizin am Virchow Klinikum (Charite) gelandet sind. Er hat uns sehr gut aufgeklärt, hat uns allerdings auch von Anfang an schonungslos gesagt, welche Risiken bestehen. Meine Frauenärztin hat mich außerdem schon zu Dingen wie Schwangerschaftsabbruch und Totgeburt aufgeklärt. Das war wirklich hart. Überhaupt waren die ersten 32 Wochen der Schwangerschaft das Härteste, was ich je erlebt habe. Man lebt jeden Tag in Angst um sein Baby und kann nur abwarten und hoffen.

Wer hat euch in dieser schweren Zeit unterstützt? Sich bei all dem organisatorischen um den älteren Bruder gekümmert?

In solchen Zeiten merkst Du, wem Dein Glück wirklich am Herzen liegt.  Wer mit Dir bangt und Hilfe anbietet. Wir haben keine Eltern oder Schwiegereltern in der Nähe, daher musste der Papa mehr ran, dessen Arbeitgeber da zum Glück sehr verständnisvoll war. Wenn er nicht konnte, sind Lukas tolle Pateneltern eingesprungen oder eine liebe Babysitterin. Auch die Großeltern mussten öfter anreisen als sonst. 

Wie groß war Eure Angst und wie seid Ihr damit umgegangen?

Mein Mann und ich haben viel miteinander und mit unseren Familien und Freunden darüber gesprochen. Dann lernt man, mit der Angst zu leben und alle haben uns Mut zugesprochen. Das hilft. Je länger alles gut war, desto sicherer wurde ich, dass wir doch noch ein gesundes Kind bekommen. 

Wie verlief die Schwangerschaft im Vergleich zu deiner ersten? 

Die erste Schwangerschaft war total easy und ohne Ängste. Die zweite dagegen von Anfang an eine harte Geduldsprobe. Ich hab so viel Zeit bei Ärzten verbracht, das reicht für mein ganzes Leben. Die dickste Nadel kann mich jetzt nicht mehr schocken und einen intravenösen Zugang find ich mittlerweile pillepalle.

Hat das die Geburt irgendwie verändert?

Die Ärzte in der Charité wollten in der 38. Woche dann doch irgendwann einleiten. Dann haben wir uns auf die 39. Woche geeinigt. 5 Tage vor Termin gingen auch so die Wehen los. Die zweite Geburt ging im Gegensatz zur ersten ganz schnell. 4 Stunden nach Ankunft im Krankenhaus war alles vorbei. In dem Moment, als er da war, haben mein Mann und ich uns so selig angeschaut und beide geweint. Als die Hebamme dann sagte, dass es ein gesunder Junge ist, ging der Sturzbach erst richtig los. 

Wie hat sich Dein/Euer Leben durch die Erfahrungen geändert?

Wir müssen jetzt mit KELL leben. Das heißt, dass bei meine beiden Söhnen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass auch sie KELL zu 100% vererben. Beim ersten Kind ist das wieder kein Problem, aber wenn sie zwei Kinder mit der gleichen Frau wollen und diese nicht auch KELL positiv ist, werden sie das Gleiche durchmachen wie wir. Ich hoffe, dass bis dahin noch mehr bekannt ist dazu und es genug Spezialisten gibt, die sich damit auskennen. Vielleicht wird sogar eine Spritze wie bei der Rhesus-Unverträglichkeit entwickelt. Das wäre super, aber ich bezweifle es, weil das zu wenige Leute haben und daher wird die Forschung da kein Geld rein stecken.

Was würdest du heute anders machen?

Ich würde nichts anders machen. In der ersten Schwangerschaftshälfte hab ich gesagt, ich hätte kein zweites Kind bekommen, wenn ich von unserer KELL Diagnose gewusst hätte. Heute bin ich froh, dass ich nichts wusste und wir alles durchgestanden haben und mit so einem süßen Baby belohnt wurden. Heute ist er 1,5 Jahre alt und ein robustes Kerlchen. Mein Mann sagt immer, er wäre ein kleiner Obelix, der im Zaubertrank schwimmend herangewachsen und deshalb so gesund ist. Das Million Dollar Baby !

Danke Kirsten, dass du diese Geschichte mit uns teilst und somit anderen Mut machst, die ähnlich schwere Zeiten durchstehen…

Kirsten Siegler

 Schwarz/Weiss Fotos von Angela Elbing – coucou Kinderfotografie