Neulich habe ich einen interessanten und kreativen jungen Mann von drei Jahren kennengelernt. Er hat braune Augen, lacht viel und ist sehr charmant. Er ist ein Pflegekind. Das Leben hat ihn schon einmal komplett gefickt. Entschuldigt meine Wortwahl, aber das trifft es einfach. Schon vor seiner Geburt kämpfte er ums Überleben, in den ersten Wochen seines Lebens musste er einen Entzug von mehreren harten Drogen gleichzeitig durchstehen. Dafür war er wochenlang im Krankenhaus. Die Krankenschwestern kümmerten sich um ihn, aber er bekam keinen Besuch.

Die nächsten sieben Monate war er in einer Bereitschaftspflegefamilie. Das ist eine Zwischenstation für Babys und Kleinkinder, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Sie werden dort bedarfsgerecht versorgt und können bleiben, bis geklärt ist, wer zuständig ist und wo das Kind langfristig leben kann.

Diese Pflegefamilie ist für den kleinen Jungen eine einzigartige Chance.

Dieser Junge konnte dann als zweites Pflegekind und als viertes Kind in eine Pflegefamilie einziehen. Damit war er bereits mehrfachen Bindungsabbrüchen innerhalb der ersten beiden so prägenden Jahre ausgesetzt. Er wurde in einem schönen Haus aufgenommen und hat ein tolles Zimmer. Seine Pflegemutter ist liebevoll und hat großes Verständnis für die Besonderheiten des Kleinen. Ich habe sie kennengelernt, weil sie hochbelastet und am Rande ihrer Kräfte ist. Familie, Freunde und Nachbarn haben sich von ihr distanziert. Die biografischen Beeinträchtigungen, die der kleine Junge schon mitgebracht hat, stellen seine Pflegefamilie vor größte Herausforderungen. Er benötigt die volle Aufmerksamkeit seines gesamten Umfelds. Die Geschwister leiden unter seinen Wutausbrüchen und Attacken.

Weil niemand sich um seine Bedürfnisse gekümmert hat, ist er zum Selbstversorger geworden. Er nimmt sich, was er will; er macht, was er will. Weil niemand ihm verlässlich Beziehungsangebote gemacht hat, geht er auf alle und jeden zu. Als er mich gerade fünf Minuten kannte, turnte er schon auf mir herum und animierte mich lautstark zum Mitspielen. Bedürfnisaufschub zu ertragen – das schafft er nicht. Als ich mich mit seiner Pflegemutter unterhielt, spuckte er mich an. Es gelang ihm nicht abzuwarten, nicht mal eine Sekunde. Nicht mal, als ich aufs Klo musste. Sein Spiel war impulsiv und körperbetont. Seine Entwicklungsverzögerung, seine seelischen, psychischen und neurologischen Defizite sind schwerwiegend und werden in Fachkliniken untersucht. Dazu fährt die Pflegemutter bis zu 300 km weit.

Bislang hatte ich mich für jemanden gehalten, der sich mit der Thematik auskennt. Ich berate gelegentlich Pflegefamilien, begleite Herkunftsfamilien und unterstütze Pflegekinder. Aber ich habe eigentlich keinen blassen Schimmer, was es bedeutet, so ein Kind in sein Leben zu lassen, es anzunehmen mit all seinen Besonderheiten, es auszuhalten mit seiner Angst, Unsicherheit, Trauer und Wut. Und es wirklich in sein Herz zu lassen; es so zu lieben, wie es eben ist.

Diese Pflegefamilie ist für den kleinen Jungen eine einzigartige Chance. Er hat seit seiner Aufnahme in die Bereitschaftspflege und dann auch in der Vollzeitpflege für seine Verhältnisse enorme Fortschritte gemacht. Er hat einen strukturierten Tagesablauf kennengelernt, der ihm Halt gibt, und liebevolle Rituale. Er hat Entwicklungsverzögerungen aufgeholt, er erfährt Förderung und Sicherheit. Er kann sich Trost holen, wenn er verzweifelt ist. Es ist ein mühsamer Prozess, aber es geht in ganz kleinen Schritten voran.

Nach zwei Stunden war mein Besuch vorbei und ich konnte wieder fahren. Der Kontakt mit diesem dreijährigen Jungen war interessant und intensiv, aber auch sehr, sehr anstrengend.

Ich ziehe meinen Hut vor der Pflegemutter, die diesen kleinen Mann jeden Tag rund um die Uhr aushält. Sie wird dem allein nicht mehr lange gewachsen sein. Wenn sie es nicht mehr schaffen sollte, dann muss der kleine Junge wieder woanders untergebracht werden; aber nur, wenn sich eine Einrichtung finden lässt, die ihn aufnehmen kann und auf schwer seelisch und psychisch geschädigte Kinder spezialisiert ist. Solch eine passende Stelle gibt es nicht einfach, solch eine passende Stelle hat er doch schon bei seiner Pflegemutter, denn sie ist faktisch die einzige Mama, die er hat.

Darum braucht sie unsere Unterstützung, unser Verständnis und unseren Zuspruch. Sie braucht Mut machende Worte und keine Verurteilung an der Supermarktkasse. Sie braucht kreative, manchmal unkonventionelle Erziehungstipps, denn die gewöhnlichen Maßnahmen greifen oft gar nicht. Sie braucht Auszeiten, um wieder Kraft zu tanken für ihren Alltag, und sie braucht die notwendigen finanziellen Mittel, anstatt nebenbei noch putzen zu gehen, um etwas für ihre Rente beiseite zu legen.

In Deutschland leben 70.000 Kinder in Pflegefamilien, der Bedarf liegt deutlich höher. Die Anzahl der Paare und Familien, die sich für ein Pflegekind entscheiden, nimmt kontinuierlich ab. Bei der Entscheidung spielt neben Werten, Motivation und Engagement oft auch ein unerfüllter Kinderwunsch eine Rolle. Die meisten wünschen sich ein junges Pflegekind – am liebsten ein Baby – und natürlich, wie alle Eltern, ein gesundes, unbeeinträchtigtes Kind mit einer günstigen positiven Entwicklungsprognose.

Die meisten Kinder, die in eine Pflegefamilie kommen, bringen jedoch lebensgeschichtliche Belastungen und Risiken mit. Laut Studien haben ca. 80 % dieser Kinder Bindungsstörungen entwickelt durch Diskontinuität und mehrfache Trennungserfahrungen. Etwa 35 % dieser Kinder waren prä- und postnatal Suchtstoffen durch die Mutter ausgesetzt und leiden daher an Entwicklungs- und Regulationsstörungen. Die Kinder, die Misshandlungen oder Vernachlässigungen erleben mussten, bringen zu fast 90 % posttraumatische Belastungsstörungen mit. Pflegeeltern übernehmen die besondere Aufgabe, dem Pflegekind einen sicheren und verlässlichen Lebensort zu bieten und ihm bei der Verarbeitung seiner bisherigen Erfahrungen und Belastungen zu helfen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder, die nicht bei ihren Eltern bleiben können, die besten Entwicklungschancen haben, wenn sie in einer gut vorbereiteten und begleiteten Pflegefamilie aufwachsen können.

Der Schritt, sein Haus und sein Herz für ein Pflegekind zu öffnen, will gut überlegt sein. Der Prozess bis dahin ist aus guten Gründen langwierig. Zuerst steht die persönliche Entscheidung. Dann durchlaufen die potenziellen Pflegefamilien ein Überprüfungs- und Eignungsverfahren auf Grundlage standardisierter psychologischer Verfahren. Das dauert in der Regel mindestens ein halbes Jahr. Es gibt verschiedene Ausschlusskriterien, die manchmal erst im laufenden Prozesses sichtbar werden. Dann ist es wichtig, sich ehrlich einzugestehen, dass man für diese Herausforderung nicht geeignet ist.

Pflegeeltern sind pädagogische Laien, die jedoch Charakterstärke und Reflexionsvermögen, Humor und viel Empathie, Geduld und Liebe mitbringen sollten. Auch die räumlichen und finanziellen Rahmenbedingungen sollten vorhanden sein, um ein Kind mit einem schweren Start ins Leben bedürfnisgerecht versorgen und fördern zu können. Von den Kommunen gibt es für Pflegefamilien, je nach Pflegeform, Pflegegeld und Beihilfen. Die Sätze werden jährlich angepasst und liegen für die allgemeine Vollzeitpflege derzeit bei 805 Euro pro Monat. Reich wird man damit nicht, aber sie decken die Kosten des Kindes ab. Der Erziehungsanteil, derzeit in Höhe von 245 Euro, ist für die Pflegeeltern.

Wichtig ist auch, dass ein Pflegeelternteil bereit ist, für ein Jahr in Elternzeit zu gehen, um rund um die Uhr für das Kind zur Verfügung stehen zu können.

Gesucht werden Paare, Familien, Lebenspartnerschaften und Alleinerziehende – Menschen mit Kinderwunsch eben. Eine Altersgrenze, wie bei der Adoption, gibt es nicht. Allerdings sollten die Pflegeeltern in der Lage sein, für ein Kind auch bis zu dessen Verselbstständigung, also ungefähr 15 bis 18 Jahre lang, da zu sein. Denn die meisten Vermittlungsaufträge bekommen Pflegekinderdienste für Kleinkinder und Babys.

Wenn eine Familie bereit ist, ein Kind aufzunehmen, wird es aufregend. Zunächst erfahren die Pflegeeltern anonymisierte Fakten über das infrage kommende Kind. Und sie erhalten Zeit sich zu beraten, ob sie sich ein Zusammenleben vorstellen können. Im nächsten Schritt lernen sie die Herkunftseltern kennen – es wird über Jahre eine Erziehungspartnerschaft geben, da ist Sympathie füreinander wichtig. Schließlich kommt es zum ersten Zusammentreffen mit dem Kind an einem neutralen Ort. Wenn es auch da Sympathie auf beiden Seiten gibt, beginnt die Anbahnung, der sanfte Übergang des Kindes in seine Pflegefamilie, also häufigere und ausgedehntere Treffen, die schließlich in den Umzug einmünden.

Pflegekinderdienste der Jugendämter sind die richtigen Ansprechpartner von Beginn an. Sie werben um Pflegefamilien, bereiten sie vor und begleiten den Prozess intensiv; eng an der Seite der Pflegefamilie, über die Zeit der Vermittlung und Aufnahme und auch die weiteren Jahre, in denen das Kind heranwachsen wird. Der Pflegekinderdienst gibt die oft dringend benötigte professionelle Unterstützung. Und das ist gut so, denn er kennt sich aus in der Kommune – mit Hilfsangeboten, Fachärzten, Therapeuten, Sonderpädagogen und allem, was sonst nötig sein kann, um gemeinsam  gut für ein Kind und seinen Weg ins Leben zu sorgen.

 

Wenn das gelingt – und es gelingt oft –, dann ist die Aufnahme eines Kindes in seiner Pflegefamilie die besondere positive Wende in dessen Leben. Was Pflegeeltern für Kinder tun können, ist einmalig: ein Abenteuer, eine Grenzerfahrung und eine ganz große Liebe.

Und es braucht viel mehr Familien, die sich darauf einlassen!

 

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(Die Fakten, Zahlen und Hintergrundinformationen für den Artikel stammen von Diplom-Sozialpädagogin Susann Vollmer vom Pflegekinderdienst in Braunschweig – vielen Dank dafür!)

Foto Credits: Daria Shevtsova via Pexels