Irgendwas zwischen Begeisterung und Entsetzen. So lässt sich mein Gefühl beschreiben, das ich habe, als ich die erste Hochrechnung zu den bayerischen Landtagswahlen sehe. Die gute Nachricht: die Partei, für die ich mich seit über zehn Jahren einsetze, hat den größten Erfolg ihrer Geschichte eingefahren. Über 17 Prozent für uns Ökos.

Ich denke an meinen ersten Chef, Sepp Daxenberger, erster grüner Bürgermeister in Bayern und ehemaliger Kopf der bayerischen Grünen. Ich denke an ihn, der viel zu früh an Krebs verstorben ist und daran, dass dieses Ergebnis auch sein Verdienst ist. Auf Augenhöhe mit den Menschen reden, sich konsequent für Mitmenschlichkeit, Freiheit und den Erhalt unserer Lebensgrundlagen einsetzen – das scheint eben doch mehrheitsfähig zu sein. Sepp, der mir erzählte, dass früher Menschen wegen seiner Parteizugehörigkeit die Straßenseite gewechselt haben – ich wünschte, er hätte diesen Abend miterleben dürfen.
Trotzdem ist da etwas, was die Freude trübt. Ganz gewaltig sogar. Denn es gibt auch eine schlechte Nachricht: die so genannte Alternative für Deutschland ist mit einem Donnerschlag ins Maximilianeum eingezogen. Mit mehr als 10 Prozent ist diese Partei stärker als die SPD. Eine Partei, in der sich neben hart konservativen Nationalist*innen auch Menschen herumtreiben, die auch bei der rechtsextremen Identitären Bewegung und ähnlichen Verbünden ein und ausgehen, überholt die geschichtsträchtigen Sozialdemokrat*innen.

Mir graut vor Dunkeldeutschland.

Zwei Wochen später, anderes Bundesland, das selbe Gesamtbild. Starke Grüne, eine selbstzufriedene AfD. Die AfD ist in das letzte verbliebene Landesparlament eingezogen. Und was ist mit den vermeintlichen Volksparteien? Den großen Konstanten, die nun keine mehr sind? CDU und SPD mussten auch in Hessen herbe Verluste einstecken, vor allem letztere scheint durch diesen Schlag noch nicht wieder auf die Beine gekommen zu sein. Die CDU hingegen hat durch den Verzicht Angela Merkels auf eine weitere Amtszeit als Parteivorsitzende einen ruckartigen Reformversuch gestartet.
Diese Wahlen wurden als Zäsur umschrieben. Als Zeitenwende. CDU, CSU und SPD gelten als die großen Verliererparteien. Insbesondere die Sozialdemokrat*innen werden in den Medien schon jetzt totgesagt, das Label Volkspartei soll für sie nicht mehr gelten.

Vielleicht ist die Zeit der etablierten Volksparteien bald wirklich vorbei.

Sabine

Aber – was, wenn dieser Schock längst vorhersehbar war? Vielleicht sogar unabänderlich?

Der Parteienforscher Prof. Dr. Michael Koß jedenfalls merkte in der Sendung Anne Will nach der Bayernwahl an, der europäische Trend setze sich nun auch in Deutschland fort. Es gehe nicht mehr um Konservative versus Arbeiterpartei, sondern ob man weltoffen sei oder die Grenzen am liebsten dicht machen würde. Seine Analyse würde bedeuten, dass die Parteien am ehesten Stimmen verloren haben, die sich nicht klar genug für oder gegen Zuwanderung positioniert hatten. Die Parteienforscher*innen Liesbet Hooghe & Gary Marks stoßen mit ihrem wissenschaftlichen Artikel „Cleavage theory meets Europe’s crises: Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage“ (Journal of European public policy, 2018 VOL. 25, NO. 1, 109–135) ins selbe Horn.

Voters changed, but mainstream parties didn’t.

Liesbet Hooghe & Gary Marks

Frei übersetzt: Die Wähler*innen haben sich verändert, aber die Volksparteien sind nicht hinterher gekommen.

In den Sechziger Jahren war es ganz einfach, sich zu einer Partei zu bekennen. Ich schreibe es jetzt mal sehr verkürzt: war man christlich und ging man jeden Sonntag zur Kirche, dann war man Anhänger*in der CDU oder CSU. War man Gewerkschaftsmitglied oder Teil der deutschen Arbeiterschaft, dann lag es nahe, dass man SPD wählte.

Welche Bedeutung haben Kirchen und Gewerkschaften heute europaweit noch? Hooghe und Marks haben zehn Jahre lang Daten untersucht und dabei festgestellt: der Einfluss und die Mitgliederzahl von Kirchen und Gewerkschaften ist gesunken.

Die soziale Herkunft oder Religionszugehörigkeit sind nicht länger alleinig ausschlaggebend für das was wir wählen. Auch andere frühere Konfliktlinien wie Kapital und Arbeit oder regionale und kulturelle Gegensätze haben an Bedeutung verloren.

Stattdessen haben sich über die Jahre neue Konfliktlinien entwickelt, die aus der Auflösung der nationalen Grenzen zugunsten der europäischen Union, dem weltweiten Handel und der Globalisierung hervorgingen. Die neuen transnationalen Verbindungen brachten Frieden und wirtschaftliche Stabilität.

Aber für viele Menschen brachte die Aufweichung der Grenzen auch Unsicherheit und eine diffuse Angst. Angst vor einem Zusammenbruch der Märkte, davor, dass der gewohnte Wohlstand plötzlich verschwunden sein könnte. Auf der einen Seite die, die sich von starken nationalen Grenzen Sicherheit versprechen. Auf der anderen Seite Menschen wie ich, die sich als Weltbürger*innen verstehen.

 

Change has come not because mainstream parties have shifted in response to voter preferences, but because voters have turned to parties with distinctive profiles on the new cleavage.

Liesbet Hooghe & Gary Marks

Wie ein gewaltiger Keil trennt dieser Grundsatz die Gesellschaft in zwei Teile.

Bei dieser Spaltung hecheln die althergebrachten Parteien hinterher, bekennen nicht klar genug, wo sie eigentlich stehen. Die Parteiforscher umschreiben diese verzweifelte, hilflose Dynamik gar mit Treibsand.
An dieser Theorie ist was dran. CDU und CSU konnten sich in den vergangenen Jahren einfach nicht entscheiden ob sie für ein „Wir schaffen das“ nach Bundeskanzlerin Merkel stehen oder ob sie die Grenzüberwachung wieder einführen wollten. Das ist nicht plausibel. Was fehlte, war eine klare Linie. Ganz zu schweigen von der SPD, die gänzlich verstummt ist um die GroKo nicht zu gefährden. Das klingt düster, birgt aber auch eine große Chance.

Totgesagte leben länger.

Ja, CDU, CSU und SPD stehen schlecht da. Die sterbenden Riesen haben es bislang nicht geschafft, sich dieser neuen, transnationalen Spaltung anzupassen und den Wähler*innen glasklar zu machen, wofür sie stehen. Es gibt aber noch eine Chance, vielleicht eine allerletzte. Denn bei aller Schwarzmalerei muss man auch sehen: noch haben CDU und SPD mit Abstand die meisten Parteimitglieder. Noch.
Jetzt müssen sie ohne Wenn und Aber die Reißleine ziehen und Position beziehen. Egal, was das an Konsequenzen kurzfristig für sie bedeuten mag. Auf lange Sicht können sie nur so weiter Bestand haben. Sie müssen sich zu Europa, zu internationalem Frieden und zu einer offenen Weltgesellschaft im Rahmen unseres Rechtsstaats bekennen, statt sich auf die Angstreden der Hetzer*innen einzulassen.
Es darf keinen Zweifel geben, dass die großen Volksparteien für internationale Stabilität, für Weltoffenheit und Menschlichkeit stehen. Sie dürfen nicht, wie die CSU, der Verlockung erliegen, am rechten Rand nach Stimmen zu fischen. Dieses Vorhaben ist von vorneherein dem Untergang geweiht – wählten rechtskonservative Bürger*innen in der Vergangenheit im Zweifel doch immer „das Original“. Davon abgesehen gefährden sie damit verantwortungslos den Frieden, auf dem unser Wohlstand gebaut ist. Den Frieden, den wir auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch erhoffen.
Die einzig wahre Überlebenschance für CDU und SPD liegt im Bekenntnis zu Weltoffenheit und Menschlichkeit. Schaffen sie diese Herausforderung nicht – dann werden wir wohl schon bald wirklich einen Umbruch, eine Zeitenwende erleben.

Hier gibt’s noch mehr Politik:

„Wir sind nie unpolitisch!“
Zeit für Aufruhr

Es geht was um in Deutschland. Oder in uns? Oder in beidem! Da ist plötzlich mehr Wut im Bauch als sonst und mehr Lust, der Wut Ausdruck zu verleihen, sich Luft zu verschaffen und den Mund mehr als sonst aufzumachen. Es gibt aber auch verdammt viele Gründe zwischen Milchstau, Geburtsberichten oder Interviews nicht mehr länger zurückhaltend zu sein, sondern auszusprechen was uns alles mindestens genauso beschäftigt, uns ständig bewegt und uns in Aufruhr versetzt. Madeleine hat hier ganz klar zum Ausdruck gebracht: WIR SIND NIE UNPOLITISCH!

Altersarmutsfalle
Kinder kriegen

Bedeutet Kinder kriegen automatisch Armut im Alter? Sabine meint jedenfalls: auf die Rente können wir uns nicht verlassen.