Zähl bis fünf.

Wenn du in der Straßenbahn sitzt oder im Wartezimmer beim Arzt. Im Supermarkt oder auf dem Spielplatz. Eins und zwei, das sind meine beiden Jungs. Drei, ein wahrscheinlich achtjähriger Junge mit Smartphone in der Hand. Vier, ein Baby in der Trage der Mutter, warm eingekuschelt. Fünf, ein kleines Mädchen, ordentlich gekleidet, neben der Oma sitzend. Glück gehabt. In meiner Ecke hier in Berlin ist es nicht ganz so schlimm. Was das Gezähle soll? In Deutschland gilt jedes fünfte Kind, bzw. Jugendlicher unter 18 Jahren als arm.

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm.

Arm, das heißt in Deutschland in den meisten Fällen nicht dasselbe, wie das was man im Hinblick auf Entwicklungsländer vor Augen hat. Die meisten Kinder bekommen hier genug zu essen – wobei das dann zum Teil unregelmäßig und einseitig ist. Sie haben in aller Regel etwas anzuziehen. Vielleicht mehr schlecht als recht, aber ohne Schuhe ist kaum ein Kind. Hierzulande geht es nicht wirklich um das nackte Überleben. Zum Glück. Aber es geht um relative Armut. Das heißt es geht um ein menschenwürdiges Leben, um Teilhabe an der Gesellschaft.
In unserer Kindertagesstätte gibt es ein tolles Angebot für Kinder ab fünf Jahren. Ein Forscher kommt mit seinem Experimentekoffer, die Kinder dürfen sich ausprobieren. Die meisten machen mit. 25 Euro kostet eine Stunde. Ein Kurs geht 10 mal. Ich musste schlucken, als ich das hörte. 250 Euro ist ein Batzen Geld. Wir können unserem Kind das ermöglichen, wir haben Glück. Aber was, wenn das einfach nicht drin ist? Wenn das eigene Kind das einzige ist, das nicht dabei sein kann. Situationen wie diese wird es mit steigendem Alter des Kindes häufiger geben. Für manche ist schon die Geburtstagseinladung nicht drin, weil kein Geld für Geschenke da ist. Was das für das Kind bedeutet, kann sich jeder selbst ausmalen. Schön ist es nicht. Im schlimmsten Fall führt es zu sozialer Ausgrenzung und psychischen Problemen.

Was hilft gegen Kinderarmut?

Wie so oft in der Politik ist die Lösung nicht so ganz einfach. Kai Hanke vom Deutschen Kinderhilfswerk hat mir im vergangenen Jahr für meinen Blog erklärt, was alles zu tun ist, damit Kinder nicht von Anfang an so stark benachteiligt werden:

„(…) nichts schützt Kinder so wirksam vor Armut wie das Erwerbseinkommen der Eltern. Aber auch eine Reform der Sozialgesetze ist längst überfällig, um die Regelsätze von Kindern und Familien im Sozialgeldbezug bedarfsgerecht anzupassen. Gleichzeitig muss aber auch an anderen Stellschrauben gedreht werden, so bei der Förderung benachteiligter Kinder in Kita und Schule. Hier müssen dringend personelle Voraussetzungen geschaffen werden, um den besonderen Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Viele Kinder aus armen Haushalten haben zudem Nachteile bei der Gewährleistung eines gesunden Aufwachsens. Auch hier fehlt es an tragfähigen Maßnahmen zu ihrer Unterstützung, zum Beispiel einem gesunden und kostenlosen Mittagessen in Kita und Schule oder einer stärkeren Anbindung des Gesundheitssystems an die frühkindliche Bildung.“

Kai Hanke

Deutsches Kinderhilfswerk

Nachdem lange nichts geschehen war, scheint es nun als ob die Große Koalition den Ruf vernommen hätte. In einem ersten Streich investierte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) in Kindertagesstätten und will vor allem den Besuch der Einrichtungen kostenlos machen. Wir haben darüber und über die Kritik daran berichtet.

Nun soll im nächsten Schritt das „Starke-Familien-Gesetz“ beschlossen werden. Ein kostenloses Mittagessen und das freie Busfahren zur Schule wären dadurch gewährleistet. Daneben soll der Kinderzuschlag um 15 Euro im Monat erhöht werden. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket wird aufgestockt, das heißt, es wird mehr Geld für alles, was Schulkinder im Alltag benötigen geben – zum Teil nun auch statt als Sach- nun als direkte Geldleistungen.

Ihr ahnt vielleicht: damit werden wichtige, aber allenfalls kleine Erleichterungen geschaffen. Das ist schön, aber eben nicht genug, wenn man Kinderarmut wirklich angehen will. Die Wurzeln des Problems bleiben unangetastet. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass schon jetzt der Deutsche Kinderschutzbund, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Deutsche Juristinnenbund und der Bundesverband Alleinerziehender Mütter und Väter das Vorhaben als unzureichend kritisieren. Insbesondere Familienkonstellationen, in denen nur ein Elternteil die Verantwortung übernimmt, sind betroffen: 56 Prozent der Alleinerziehenden mit zwei und mehr Kindern gelten als arm.

Als ich mich kürzlich zum „Gute-Kita-Gesetz“ kritisch geäußert habe, wurde entgegnet, es sei doch toll, dass überhaupt etwas geschehe. Man müsse ja nicht immer gleich dagegen sein.

Die Hauptkritik am Gesetzentwurf:

  • Nur etwa 30 Prozent der Berechtigten beziehen momentan den Kinderzuschlag. Die Leistung zu beantragen gilt als sehr kompliziert (das Merkblatt dazu umfasst 23 Seiten), so dass in der Praxis die wenigsten Eltern davon profitieren.
  • Ähnlich sieht es beim Bildungs- und Teilhabepaket aus: das Instrument hat den Ruf eines Bürokratiemonsters und wird von nur Wenigen tatsächlich auch in Anspruch genommen.
  • Das Thema Erwerbseinkommen der Eltern, also das Schlüsselthema wenn es um Kinderarmut geht, bleibt auf der Strecke.

Ich nickte erst innerlich, als ich das las. Man muss keinesfalls immer dagegen sein. Dann fand ich es plötzlich ein bisschen traurig. Müssen wir uns mit Gesetzen zufrieden geben, die offensichtlich vor Problemen strotzen – weil wir dankbar sein müssen, dass überhaupt etwas gemacht wird? Sorry, aber nein. Es ist wichtig die politische Arbeit ganz gründlich unter die Lupe zu nehmen und entsprechend aktiv zu werden. So wie beispielsweise das Bündnis „Starke Kinder, starke Zukunft“. Der Zusammenschluss alleinerziehender Frauen wirbt für ihre Petition (hier kommt ihr direkt zur Petition), in der sie zum Beispiel eine Kindergrundsicherung vorschlagen.

Kindergrund- what?

Statt einzelne kinderbezogene Leistungen separat zu verbessern schlagen die Verfechter*innen der Kindergrundsicherung vor, alles – sprich: Kindergeld, Kinderfreibetrag, manche Modelle nehmen auch Erziehungsgeld, Anerkennung der Erziehungszeiten in der Rentenversicherung und die Familienversicherung in der Krankenversicherung mit auf – automatisch in einen Topf zu stecken und an alle auszuzahlen. Mit steigendem Einkommen würde die Kindergrundsicherung dann abschmelzen, so dass vor allem diejenigen profitieren, die die Hilfe faktisch am meisten bräuchten. Linke und Grüne sind schon länger Fans davon, seit kurzem findet auch die SPD die Idee gut. Schade, dass sie es nicht geschafft hat, die Kindergrundsicherung in das „Starke-Familien-Gesetz“ einzubauen. Weil da gehört sie hin.

Ein weiterer Vorschlag des Bündnisses „Starke Kinder, starke Zukunft“: weg mit dem Ehegattensplitting. Denn das bezuschusst nicht Familie, sondern den Trauschein. Das Geld soll nach Vorschlag der Initiatorinnen lieber für eine faire Besteuerung von Familien eingesetzt werden. Außerdem machen sie klar: Care Arbeit, also die Pflege von Kindern und Angehörigen verdient mehr politische Anerkennung und Rückhalt. Auch finanziell. Denn:

„Menschen, die Care Arbeit leisten, tappen (…) nicht nur in die Teilzeitfalle, sondern stehen obwohl sie wertvolle Arbeit für und an der Gesellschaft leisten, stets mit einem Fuß in der Altersarmut.“

Bündnis "Starke Kinder, starke Zukunft"

Ich weiß nicht wie es euch geht, aber meine Unterschrift hat die Petition. Macht für mich alles Sinn. Aber auch konkret im Alltag können wir etwas tun. Kai Hanke vom Deutschen Kinderhilfswerk beispielsweise schlägt vor:

„Bilden Sie Gemeinschaftskassen für Kita- und Schulausflüge, versuchen Sie einer Verengung ihres Freundeskreises und dem ihrer Kinder aufgrund der materiellen Lebensverhältnisse anderer entgegenzutreten. (…) Wichtig ist: Dabei geht es nicht um Almosen. Helfen Sie ohne milde Gaben, sondern mit Einfühlungsvermögen und Unterstützung der Kinder bei der Umsetzung ihrer ganz konkreten Anliegen.“

Kai Hanke

Deutsches Kinderhilfswerk

Auch spannend:

Wie finde und erhalte ich einen
Kitaplatz?!

Dass die Kitaplatzsuche ganz schön Bauchschmerzen bereiten kann, das brauchen wir euch Eltern nicht erzählen. Wir erzählen euch lieber: Was zu empfehlende Vorgehensweisen bei der Bewerbung sind, wann die meisten Plätze vergeben werden, was tun, wenn sich das Kind in einer Einrichtung nicht wohl fühlt und was für Rechtsansprüche man hat. LEST HIER MEHR

The day that…
L. was born

Hypnobirthing, ein Begriff unter dem sich viele von uns nicht wirklich etwas vorstellen können. Hier bringt Linda von „the urban nature“ Licht ins Dunkel. Sie erzählt von ihrer dritten, selbstbestimmten Hausgeburt in Selbsthypnose, darüber, warum zwei Hebammen notwendig sind und welche Optionen es bei einer Hausgeburt für die älteren Geschwister gibt… LEST HIER LINDAS GEBURTSGESCHICHTE