Über den Schiefstand in unserem deutschen Bildungssystem hat Sabine gestern schon sehr deutliche Worte gefunden, denn geht es um Chancengerechtigkeit, befindet sich Deutschland im OECD-Ländervergleich nach wie vor eher im schlechten Mittelfeld. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass Erwachsene mit Akademikereltern in Deutschland mit einer acht Mal höheren Wahrscheinlichkeit eine Hochschule besuchen werden als Erwachsene mit Eltern mit einem niedrigeren Bildungslevel. Wie das ganz konkret im Alltag aussieht, hat uns Diplom-Pädagogin und Familienhelferin Christine aufgezeigt:

Face it: Kinder werden aufgrund ihrer familiären Herkunft im Schulsystem benachteiligt oder bevorzugt

Meine Jungs in der 6. und 9. Klasse eines Gymnasiums und quasi Vollprofis in Sachen „Schüler-sein“. Ich gestehe auch gern, dass ich gar nicht die große Unterstützung in Sachen Schule für sie bin. Da leistet der beste Papa der Welt einfach mal seinen besten Papa-Job der Welt. Er kann nämlich Mathe erklären. Und Physik. Und Grammatik auch, sogar Englisch, Französisch und Latein. Wer sich gerade in der Partnerwahl befindet und Ausschau nach einem potenziellen Vater seiner Kinder sucht, der sollte diese Fähigkeiten durchaus berücksichtigen. Für alle anderen gibt es viele Nachhilfeinstitute auf dem Markt oder Oberstufen-Streber-Schüler oder gutaussehende Mit-zwanziger-Studenten – kostet aber alles Geld.

Eltern, die denken, dass ihre Kinder das doch in der Schule lernen und zu Hause „nur“ ihre Hausaufgaben machen müssen, muss ich leider enttäuschen. Denn das kann Schule gar nicht leisten. Eigentlich schon, aber nicht bei uns. Gerade in Deutschland hängen die Bildungschancen – wie in kaum einem anderen Land – so sehr von der Herkunft ab. Kinder aus bildungsfernen oder armen Familien, Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, Kinder mit vielen Geschwistern oder von allein erziehenden Eltern, Kinder, die Trennung der Eltern, Unfälle, Krankheiten in der Familie oder andere Probleme erleben mussten, sind im deutschen Schulsystem benachteiligt. Ja, ich weiß, es gibt kein deutsches Schulsystem, sondern 16 verschiedene Systeme, für jedes Bundesland ist es ein bisschen anders. Und manchmal klappt das ein oder andere auch etwas besser in dem einen oder anderen Bundesland – siehe Pisa-Ländervergleiche. Aber alle haben gemeinsam, dass Kinder aufgrund ihrer familiären Herkunft im Schulsystem benachteiligt oder bevorzugt werden. Und alle Schulsysteme sortieren Kinder aus, die nicht in das System passen, sodass die Kinder, die eher benachteiligt sind, noch stärker ins Abseits gestellt werden. Verrückt, denn eigentlich müsste es ganz andersherum sein, gerade die Kinder, die Bildung und Lernen am nötigsten haben, brauchen doch unsere ganze Aufmerksamkeit und Unterstützung! Stattdessen werden sie schon früh abgeschrieben.

Da wo Kinder sicher, behütet und mit unterstützenden Eltern aufwachsen, da können sie in der Schule viel lernen und sich gut auf das Leben vorbereiten. In der Grundschule beispielsweise lernen die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen. Eltern, die ihren Kindern Bücher vorlesen und mit ihnen Postkarten für Oma aus dem Urlaub schreiben oder gemeinsam ein Vogelhäuschen bauen, Kuchen backen, die Kids zum Einkaufen mitnehmen und dabei gemeinsam beiläufig rechnen üben, die können ihren kleinen Grundschülern super helfen. Ganz anders sieht das bei Familien aus, in denen es keine Bücher gibt, in denen Eltern keine Zeit haben oder keine Kraft, in denen Eltern selbst nicht lesen und schreiben können.

Eltern, die ihre Kinder gut unterstützen können, lehren sie den Schulweg und sprechen ihnen Vertrauen aus und Mut zu, den Weg allein zu schaffen (und bringen sie nicht mit dem Auto zur Schule). Sie geben nachmittags Struktur vor, sodass Zeiten für Hausaufgaben und auch ein Platz dafür vorhanden sind – und sie lassen die Kinder satt (beispielsweise ein Kakao und ein paar Apfelstücke im Nachmittagstief liefern die nötige Energie) und ohne Ablenkung arbeiten.

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Das Bildungs- und Teilhabepaket (BUT), ein hoch bürokratisches und schambehaftetes Unterstützungssystem

Ganz anders sieht es da in Familien aus, in denen die Kinder kein eigenes Zimmer haben und auch keinen Schreibtisch, in denen permanent der Computer, die Spielkonsole, der Fernseher läuft, in denen Kinder sich tagsüber mit trockenem Toastbrot selbst über Wasser halten und ihre kleinen Geschwister gleich mitversorgen. Oder in Familien, in denen Eltern krank sind (z.B. depressiv, abhängig, chronisch krank …) und die Kinder sich um ihre Eltern kümmern. Oder in Familien, die von Harz IV leben und für Schulbedarf pro Schuljahr 70 Euro erhalten. Davon kann man an manchen Schulen gerade mal das Kopiergeld bezahlen, dann hat man aber noch keine Materialien und Arbeitshefte, Zirkel und Taschenrechner. Geschweige denn Geld übrig für Nachhilfe …

Ja, ja, es gibt das Bildungs- und Teilhabepaket (BUT), ein hoch bürokratisches und schambehaftetes Unterstützungssystem, welches ein Teil der betroffenen Familien erst gar nicht versteht oder kennt. Nachhilfe wird gewährt, aber erst wenn eine Versetzung gefährdet ist, „nur“ für bessere Noten und Chancen auf einen höheren Abschluss der Kinder ist es nicht gedacht. BUT übernimmt auch die Kosten für eine Klassenfahrt, in manchen Kommunen müssen die Eltern sich jedoch zuvor von der Schule bescheinigen lassen, dass es keinen schulinternen Fördertopf für die armen Kinder gibt. So eine durchschnittliche Drei-Tage-Klassenfahrt kostet je nach Jahrgang ein paar hundert Euro. Das kann eine Harz-IV-Familie nicht nebenbei ansparen. Und selbst wenn sie sparsam leben – das Geburtstagsgeschenk, die neuen Schuhe, weil die Füße schon wieder gewachsen sind, die Stromnachzahlung usw. müssen ja auch bezahlt werden. Eltern, die ihre Kinder gut unterstützen können, ermöglichen den Schwimmkurs, den Fußballverein, das Reiten und Klavierspielen usw. (oder für den kleinen Geldbeutel: den Bibliotheksbesuch, den Bastel- oder Spiele-Nachmittag, den Parkspaziergang mit Fußballkicken)

Dadurch erleben die Kinder sich als wertvoll, talentiert und selbstsicher, sie sind Teil eines Teams, sie feiern Erfolge und bewältigen Niederlagen. Das alles brauchen sie im Schulalltag, denn dort wird von ihnen erwartet, dass sie Leistung zeigen, Fehler und Rückschläge aushalten, sich an Regeln und Ansagen von Lehrern halten, ihre Impulse kontrollieren und ruhig sitzen bleiben, sich nicht vom Krach der 25 Mitschüler ablenken lassen und ihre Gefühle im Griff haben. Kinder können so etwas nicht automatisch, nur weil sie für schulreif befunden und eingeschult werden. Wenn sie in ihrer Familie nicht erleben konnten, dass sie wertvoll und sicher sind, dann können sie nur schwer ein Selbstwertgefühl entwickeln. Dann sind sie unsicher und ängstlich, dann sind sie gar nicht in der Lage, sich auf Schule wirklich einzulassen.

Kein Kind kommt in die Schule und kann schon alles, aber ein Kind, welches unsicher ist, wird jeden Fehler auf sich beziehen, wird sein Scheitern erwarten und in seinem Scheitern die einzige Sicherheit erleben, die es kennt. Darum wird es nach kurzer Zeit sein eigenes Scheitern provozieren – das einzige, was es kann. Man nennt das auch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung (Self fulfilling prophecy). Statt dieses selbstzerstörerische Prinzip zu unterbrechen – die Kinder selbst, diese kleinen 6-jährigen Stöpsel, können das nicht alleine schaffen – wird es in der Schule oft bewusst oder unbewusst verstärkt. Da werden Erstklässler suspendiert, weil sie den Unterricht massiv stören, anstatt ihnen das Lernumfeld zu geben, das sie brauchen, um überhaupt erst mal das Lernen lernen zu können. Da wird Leistung bewertet, und Kinder vergleichen sich, obwohl sie völlig unterschiedliche sozio-emotionale Voraussetzungen mitbringen. Da wird vermeintlich allen das Gleiche ermöglicht (Stichwort Inklusion), aber jedes Kind braucht andere Unterstützungsmöglichkeiten. Und immer wieder wird auf die Eltern verwiesen: die müssen unterstützen, die müssen bei den Hausaufgaben aufpassen, die müssen Schulbrote schmieren, die müssen die Kinder pünktlich schicken, die müssen das Schulmaterial bezahlen, die müssen Winterjacken kaufen, die müssen doch zum Elternabend kommen. Ja, das müssen sie; aber das können sie nicht immer, das schaffen sie nicht immer.

Ach Kinder,
bei der Wahl eurer Eltern müsst ihr echt gut aufpassen, sonst habt ihr schon verloren.

Den meisten Lehrern gilt mein größter Respekt, denn sie haben noch ganz andere Einblicke in die desolaten Zustände unserer Schulsysteme und halten dieses Spannungsfeld täglich aus. Aus den kleinen, vernachlässigten und wenig geförderten Erstklässlern werden rotzige und teilweise gefährliche Jugendliche. Einige erreicht man, wenige schaffen es aus ihrem Milieu heraus, aber die meisten fallen durch das löchrige Netz und tragen ihre Defizite in die nächste Generation. Ich bin immer wieder beschämt, wenn ich feststelle, dass unser reiches Deutschland sich so wenig um seine Zukunft kümmert. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es viel mehr Investition in unsere Bildung. Mittagessen und Schulmaterial, Sport- und AG-Angebote am Nachmittag, kleine Klassen, Lehrer und Sozialarbeiter arbeiten zusammen, aufsuchende Elternarbeit, echte Inklusion mit Nachhilfe, Hausaufgabenbetreuung, Lerntherapie, Ergotherapie usw., alles innerhalb der Schulen und alles kostenfrei für die Kinder.

Außerdem endlich eine Schuluniform, damit nicht die Unterschiede zwischen den Kindern und im Extremfall ihre Ausgrenzung, sondern die Zugehörigkeit zur Schule vermittelt und erlebbar wird. Und mehr Praxisbezug in den weiterführenden Klassen, Zusammenarbeit mit den Ausbildungsbetrieben, Patenschaften zwischen Firmen und Schülern, Förderung von Mädchen in technische Berufe, Vernetzung mit Vereinen und Stärkung ehrenamtlichen Engagements von Jugendlichen … Digitalisierung ist auch wichtig, aber geht mal auf ein Schulklo in einer durchschnittlichen Schule (Flashback 70er-Jahre).

Hallo Politik, das fehlt mir so oft: Lösungsvorschläge statt Zustandsanalyse, denn es geht um nichts Geringeres als unsere Zukunft. Gute Investitionen in die Bildung sind meines Erachtens auch eine wesentliche Grundlage für eine funktionierende Demokratie – falls die Argumente mit den armen Kindern euch noch nicht ausreichen. Denn die Kinder haben leider keine Lobby, hat die Demokratie noch eine Lobby?

So kann jede*r von uns anderen Kindern & Eltern helfen

Kinder haben keine Lobby, aber wir Eltern können uns engagieren. Natürlich nun nicht gerade die Eltern, die etwaige Defizite oder Probleme haben. Aber alle anderen: Setzt euch ein für Kinder, für die eigenen, aber auch für alle, z.B. indem ihr das Schulsystem mitgestaltet, lautstark kritisiert, und es im Kleinen reformiert. Schickt eure Kinder auf die staatlichen Schulen und beteiligt euch als Elternvertreter, in Fördervereinen, im kommunalen Schulelternrat. Geht ins Gespräch mit Direktoren, Schulämtern und Landesschulbehörden

– und verschließt nicht eure Augen, wie so viele gesellschaftliche / wirtschaftliche / politische Influencer es bereits tun, die ihre Kinder längst auf Privatschulen schicken.

Das Schulsystem zu verbessern und Kindern Chancen zu geben, das ist nicht nur ein persönliches Anliegen für die eigenen Kids. Von der Politik auf allen Ebenen (Schulen, Kommunen, Landesschulbehörden, Bildungsministerien, Regierung) wünsche ich mir mehr Lösungsvorschläge statt Zustandsanalysen, mehr Neues wagen statt in alten Mustern verharren, mehr Vernetzung statt Verantwortungsdiffusion. Der digitale Bildungspakt ist ein guter Ansatz, aber es geht um viel mehr.

Bildquelle: pixabay

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