Julia ist eine enge Freundin von mir. Sie wohnt bei mir im Haus, wir sehen uns fast jeden Tag, unsere Kinder wachsen auf wie Cousinen und Cousins. Ich habe ihren schwangeren Bauch gestreichelt, mit ihm gesprochen, mich auf Greta gefreut und wir hatten viele Pläne gemacht. Dann flogen wir vergangenen Winter nach Kapstadt und als wir zurück in Berlin waren, war plötzlich alles anders. Greta kam am 24. Dezember 2017 auf die Welt, drei Monate zu früh und starb 24 Stunden später – in den Armen ihrer Eltern. Meine wunderbare Freundin hat dieses schlimmste Erlebnis, dass sich eine Mutter vorstellen kann, für uns aufgeschrieben. Es ist eine Geschichte voller Liebe, Trauer und Stärke. Eine Geschichte, die euch tief erschüttern und zu Tränen rühren wird, aber die erzählt werden muss.

„Zwei Wochen vor Weihnachten“

„Ich bin nicht der größte Fan von Weihnachten. Aber letztes Jahr war es anders. Unser Sohn David war fast 3, es würde also sein erstes richtig erlebtes Weihnachtsfest werden. Zudem war ich, nach einem sehr anstrengenden Umzug nach Berlin, einem bereits sehr dicken Bauch (schwanger im 7. Monat) und noch keiner Kita für David und damit verbunden einem großen Bespaßungs-Level – ehrlich gesagt – einfach nur fertig und freute mich auf die Heimat. Auf Familie, die einen verwöhnt, David liebend gerne bespielt und Erholung. Geplant war, den ganzen Januar über in der Heimat München zu bleiben und sich eben dort etwas Unterstützung zu holen. Zudem war ich die Woche vor Weihnachten wegen Vorwehen und starken Bauchschmerzen drei Tage im Krankenhaus gewesen. Empfehlung der Ärzte dort: bitte weniger Anstrengung. Kurz gesagt: Halleluja – Weihnachten! 

Mit dem Aufwachen am 24.12. sollte sich allerdings alles ändern. Ich erwachte ohne Schmerzen, doch sie begannen sofort. Ich lag noch immer und konnte auch nicht mehr aufstehen. Wir waren relativ ruhig, wir dachten es sei das gleiche wie die Woche zuvor. Vorwehen und diese Schmerzen, verursacht durch einen durchgehend brettharten Bauch. Wir riefen sofort den Notarzt, brachten David aus dem Zimmer. Nur wurden diesmal die Schmerzen noch weitaus schlimmer. Ich erinnere mich noch, wie ich einfach nur nach Schmerzmitteln bettelte. Was mir wie Stunden vorkam, ging wohl alles relativ schnell. Ich machte beim Treppen-Runter-Tragen im Tuch durch die Notärzte und Sanitäter einfach nur die Augen zu. Ich bin ein sehr bildlicher Mensch, ich wusste: diese Bilder bekommst du nicht mehr aus dem Kopf, also schau nicht hin. Zudem war ich kurz vor dem Kreislaufschock, später stellte sich heraus, ich hatte bereits 3 Liter Blut innerlich verloren. Im Krankenhaus ging alles sehr schnell – kurzer Ultraschall und ab in den OP. Notkaiserschnitt mit Verdacht auf Plazentalösung. 

Als die Oberärztin mich aufschnitt war ihr erster Gedanke: What??? Was ist das? Mein Uterus war dunkel lila. Sämtliche Gefäße waren zum Platzen gestaut. Sie fasste in mich und spürte, dass der Uterus verdreht war – Uterustorsion. Zu meinem großen Glück war die Oberärztin sehr routiniert. Obgleich sie so etwas selbst nie gesehen hatte, traf sie die richtigen und für mich lebensrettenden Entscheidungen. Ich wurde vertikal aufgeschnitten und der sich um 180 Grad gedrehte Uterus wurde zurück gedreht und an einer nicht ganz gestauchten Stelle oben am Fundus aufgeschnitten. Unsere kleine Greta wurde geholt und sogleich in die Hände der Neonatologen übergeben. Ich hatte großes Glück, die Blutung hörte auf, ich benötigte keine Blutkonserven, und sie konnten meinen Uterus retten.

Unsere Kleine kam stark unterversorgt zur Welt. Die Plazenta hatte sich wohl auf Grund der Drehung des Uterus und der damit einhergehenden Stauung aller Gefäße gelöst. Zunächst dachten sie, man könne sie nicht mal einmal mehr reanimieren. Doch es klappte. Und am Abend, als ich wieder bei Bewusstsein war und sie mein Bett auf ihre Station schoben, damit ich meine Tochter kennenlernen konnte, sagten sie, sie mache gut mit und sei stabil. Wir hatten also eine kleine Tochter. Greta. Geboren in der 28. Schwangerschaftswoche an Weihnachten. Sogleich schossen mir lauter Gedanken durch den Kopf: ich habe von einigen gehört, deren Kinder in dieser Woche geboren wurden. Und auch die haben überlebt und sind normal groß geworden. Ich war voller Angst aber auch Hoffnung. Die Ärzte waren toll. Sie würden das schon schaffen. Sicherlich trugen auch die ganzen Medikamente, die ich gegen die Schmerzen bekam, dazu bei, dass ich das meiste eher wie in einem Nebel wahrnahm. Mein Mann Felix hatte diese in dem Moment sehr guten Medikamente nicht. Für ihn war es der Tag, an dem er dachte, er verliere seine Frau und seine Tochter.  

Am nächsten Morgen schrieben wir unseren Freunden und Verwandten, dass Greta geboren sei. Zwei Stunden später ging Felix wieder auf die Neonatologie, um nach ihr zu sehen. Ich konnte ja nicht laufen und konnte somit nicht die ganze Zeit bei ihr sein. Nie vergesse ich den Moment, als er zurück kam und ich fragte, ob alles ok sei. Der Satz „Es sieht nicht gut aus“, sein Blick dazu…. der Satz der meine Welt still stehen ließ. „Nein, nein, nein, nein, nein….“ mehr bekam ich nicht raus. Felix erklärte mir sehr ruhig, was der Oberarzt gesagt hätte und dass er gleich käme um mit uns zu sprechen. Sie teilten uns mit, dass Greta keine Hirnstammreflexe habe. Es sei zu einer erheblichen Schädigung durch die Unterversorgung gekommen. Und obwohl sie am Tag zuvor gekämpft habe, so seien in der Nacht die Werte stetig gesunken, obgleich man alles tue. Wir hatten ein sehr intensives und sehr liebevolles Gespräch mit den Ärzten der Neonatologie, sowie einigen Schwestern, die Greta betreuten. In der schlimmsten Stunde waren diese Menschen so mitfühlend und doch auch sachlich mit allen Informationen.

Felix und ich brauchten nach dem Gespräch nicht mehr viele Worte. Wir sahen uns an und waren beide davon überzeugt, dass unser kleines Mädchen uns bereits gezeigt habe, dass es selbst nicht mehr kämpfen kann, weil es zu schwer war. Sie war mit ihrer eigenen Würde auf diese Welt gekommen und wir wollten unsere Pflicht als ihre Eltern erfüllen: Sie so sehr lieben und alles tun, damit es ihr gut geht. Und in ihrem Falle hieß diese elterliche Pflicht in unseren Augen: sie gehen zu lassen. Ihr Wohl vor unser Bedürfnis zu stellen, unsere Tochter bei uns zu haben. 

Die Stunden, die folgten, waren wie im leeren Raum. Alles stand still. Wir telefonierten mit unseren Familien, wir baten unsere Schwestern zu uns zu kommen. Wir fragten einen guten Freund, ob er kommen würde, um von uns mit Greta Fotos zu machen. Wie gut, dass Felix daran dachte. Ich hätte niemals an Fotos gedacht und ich hätte es so unglaublich bereut, keine Bilder zu haben. Diese Fotos sind für uns ein Schatz. 

 

Wir baten den Seelsorger des Krankenhauses, der uns bereits die ganze Zeit zur Seite stand, Greta zu taufen. Wir sind beide nicht besonders gläubig, ich glaube aber, in solchen Situationen möchte man diesem kleinen Wesen alles mitgeben, was man kann. Und Rituale und Glaube geben Halt.

Bevor alle kamen, schob Felix mich zu Greta ins Zimmer. Er gab mir einen Kuss und sagte, er gehe jetzt. Ich solle ein bisschen Zeit mit meiner Tochter alleine haben. Sie lag im Brutkasten. Ich streichelte ihre Füße, redete mit ihr und sang ihr „Der Mond ist aufgegangen“ vor. Immer, wenn ich während der Schwangerschaft abends das Lied für David gesungen hatte, strampelte Greta in mir sehr stark. Ich ging also davon aus, dass sie es besonders mochte. Ich habe das Lied nie so gekrächzt wie im Krankenhaus. Ich bekam kaum einen Ton heraus, aber ich sang alle drei Strophen. Im Nachhinein denke ich, was ich ihr nur alles hätte sagen sollen, wie viel mehr Zeit ich doch mit ihr hätte verbringen sollen. An diesen Stellen stoppt mich Felix immer und sagt, ich habe ihr alles gegeben und ihr alles gesagt. Und ich könne das auch immer noch, denn sie ist immer bei mir.

Als alle bereit waren, hatten die Schwestern das Zimmer von Greta dekoriert und künstliche Kerzen aufgestellt. Es legten ihre Taufkerze, ein Taufspruch und Deckchen bereit. Nach der Taufe wurde sie mir auf die Brust gelegt. Das erste Mal, dass sie nicht im Brutkasten lag. Sie hatte noch ein paar Kabel und bekam etwas gegen Schmerzen. Aber sie lag nackt auf mir. Felix lag im Bett neben uns. Unsere Schwestern und unser Freund mit seiner Partnerin waren hinter uns. Ärzte, Schwestern und Seelsorger ebenso. Mir kam es vor, als wären es nur wir drei. Ich spüre noch heute ihre Haare an meinen Lippen. Ich fühle ihre Haut. Wir wechselten uns ab. Sie lag mal auf mir, mal auf Felix. Sie lebte noch 35 Minuten.

„Ich spüre noch heute ihre Haare an meinen Lippen“

Die Ärzte hatten damit gerechnet, dass es schneller ginge, da sie zuvor einiges an Mitteln brauchte. Aber ich bin sicher, dass Greta diese Zeit genauso brauchte wie wir. Die wichtigsten 35 Minuten in unserem gemeinsamen Leben. 35 Minuten mit Mama und Papa. Voller Liebe und Kuscheln. Ich küsste sie ständig und sagte ihr immer wieder, dass es ok sei. Sie dürfe gehen und loslassen. Und wie sehr wir sie lieben. Und dass sie ganz toll sei und wir uns so auf sie gefreut hätten. Das waren die schönsten, intensivsten und schlimmsten 35 Minuten in meinem Leben. Und ich bin dankbar, dass wir sie hatten. Dass Greta bei uns sterben durfte und nicht an Maschinen. Dass sie auf meinem Herzen lag, als sie starb. Dass sie den Herzschlag hörte, den sie schon viele Monate kannte.

Ich habe meine Therapeutin später einmal gefragt, wie ich diesen Moment überleben konnte. Wieso ich nicht geweint hätte und zusammengebrochen wäre. Sie sagte, dass man in solchen Ausnahmesituationen sehr genau weiß, dass es nur diesen einen Moment gebe. Diesen einen Moment, den wir mit Greta noch haben. Und hätte ich meine Emotionen zugelassen und geweint und wäre mit mir beschäftigt gewesen, dann hätte ich nicht jede Sekunde mit Greta aufsaugen können.   

Es war ein friedlicher Moment, keine Qualen, keine Schmerzen, kein Kampf. Nur Liebe. Wir hatten nicht viele Möglichkeiten und Zeit, ihr etwas zu geben, aber ich glaube, wir haben ihr das Wichtigste für sie gegeben: wir haben sie frei gelassen.

Bald jähren sich Gretas Geburts- und Todestag. Es ist unfassbar, dass ein Jahr vergangen ist. Es war das kürzeste, längste, schlimmste und intensivste Jahr meines Lebens. Ich habe Angst vor Weihnachten. Aber auch da kommen wir durch. Denn eines haben wir geschafft: wir sind durch diese Katastrophe gemeinsam gegangen. Es war hart, wir haben viel gestritten, geheult, geschrien. Aber wir haben eben auch wieder gemeinsam gelacht, Spaß gehabt und wir lernen, Greta in unsere Familie zu integrieren. Sie ist unser Stern. Sie ist immer da. Trauer ist harte Arbeit. Und wir sind dabei. Vielleicht erzähle ich in einem weiteren Artikel davon, wie intensiv, schrecklich aber eben auch stärkend Trauerarbeit sein kann. Und wie viel unglaublich tolle Hilfe man bekommen kann.“ 

„Unser Stern musste unter meine Haut!“

Ich bin in Gedanken für immer bei allen Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Ob in der Frühschwangerschaft oder mit 18 Jahren. Ihr seid so stark. Es ist so schwer. Aber wir schaffen das! 

Julia

„Der intensivste Moment als Familie zu viert. Der Moment, als David seine kleine verstorbene Schwester Greta kennenlernte. Er bemalte ihren Sarg, er streichelte sie, er legte ihren Körper mit uns gemeinsam zur letzten Ruhe. Wir hatten eine so tolle Beratung der Kinderstiftung der AETAS, wie man Kindern den Tod beibringt, was man ihnen erzählt und wie man sie so einbindet, dass sich kein Trauma bildet. David hat das alles toll gemacht und ich finde es unglaublich wichtig zu erzählen, dass man in solchen Situationen Hilfe bekommt und dass Trauer und Tod für Kinder vor allem schlimm werden, wenn man sie nicht teilhaben lässt. Denn die Phantasie ist zumeist sehr viel Schlimmer als die Realität.“ 

Julia