

„Ich bin da irgendwie so reingeraten.“
Was schockiert dich heute noch, und wann wirst du richtig wütend? Bei uns im Team gibt es ein geflügeltes Wort: „Da denkst du, du hast schon alles erlebt, und dann das …“. Selbst nach zehn Jahren als Familienhelferin erlebe ich immer wieder Schockierendes und manchmal auch Skurriles. In meinem nächsten Leben werde ich ein Drehbuch für eine Serie schreiben, die ersten acht Staffeln habe ich quasi im Kopf schon fertig. Wütend machen mich vor allem Behörden und Institutionen, sie verschärfen nicht selten die Probleme in den Familien noch:
- Viele Sozialarbeiter in den Jugendämtern sind überfordert (weil unterbesetzt) und unerfahren (weil Berufsanfänger).
- Lehrer sind oft nur unzureichend pädagogisch ausgebildet (zu Störungsbildern von Kindern wie ADHS, sozial-emotionalen Störungen, Depressionen) und auch eher überfordert und überlastet – besonders, seitdem die Inklusion von Kindern mit Förderbedarf innerhalb der Regelschulen durchgesetzt wurde.
- Familienrichter, Anwälte und Verfahrensbeistände sind zwar juristisch versiert, doch in Sachen Entwicklungspsychologie, Bindungstheorien, systemischen Ansätzen usw. haben sie wenig bis keine Ahnung. Allerdings sind sie die Beeinflusser und Entscheider in Rosenkriegen und Sorgerechtsverfahren.
- Dann die Sachbearbeiter im Jobcenter, die nach Zahlen entscheiden und Familien am Existenzminimum noch sanktionieren und notwendige Zahlungen verzögern oder gar verweigern. Dadurch wird Armut zur Armutsfalle, und das trifft vor allem die Kinder.
- Was das Strafrecht angeht: Welche lächerlich geringen Strafen Sexualstraftäter oder Eltern, die ihren Kindern gegenüber gewalttätig sind, bekommen, wenn sie überhaupt angezeigt oder verurteilt werden – sie stehen in keinem Verhältnis zu den lebenslangen Folgen, mit denen die Opfer zu kämpfen haben.
„Kinder reagieren auf familiäre Probleme äußerst sensibel und zeigen das in ihrem Verhalten.“

Wo siehst du die Politik in der Pflicht, Verbesserungen herbeizuführen und zu unterstützen? Die Politik könnte sich an vielen Stellen aktiv einbringen, um Kindern und ihren Familien zu helfen. Leider haben Kinder keine Lobby, sie gehören nicht zur Wählerschaft und leisten nichts, sondern kosten nur. Das ist zu kurz gedacht, ich weiß – vielleicht finden sich ja doch Menschen aus der Politik, die sich engagieren wollen, hier ein paar Vorschläge:
- Ehegattensplitting aufgeben zugunsten von Steuervorteilen für Eltern
- Deckelung der Versicherungskosten für Hebammen
- Elternkurse und „Elternführerschein“ für werdende Eltern einführen. Ich musste sogar einen „Hundeführerschein“ mit Theorie- und Praxisprüfung absolvieren, bevor ich einen Hund halten durfte.
- Quantitativer und qualitativer Ausbau von Krippen und Kindergärten. Verpflichtender Kindergartenbesuch ab drei Jahren – begründete Ausnahmen auf Antrag möglich. Wer einen solchen Antrag nicht stellen kann, sollte seine Kids lieber jeden Tag ein paar Stunden in der Kita betreuen und fördern lassen.
- Viel mehr Sozialpädagogen an Schulen, Vernetzung von Schulbehörden, Jugendhilfe und Sozialhilfe; flächendeckende Ganztagsbetreuung an Schulen; Schuluniformen; keine Suspendierungen mehr von Schulkindern bis 14 Jahren.
- Unterstützung für Kinder unbürokratisch anbieten, z.B. Öffentliche Verkehrsmittel frei für alle Schüler; mehr Sponsoring von Kindern in Kunst, Musik, Sport und Kultur statt des Bürokratie-Monsters „Bildungs- und Teilhabepaket“.
- Eltern strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, wenn sie das Kindeswohl ihrer Kinder gefährdet haben.
Was ist dein Trick, wenn du es mit erzieherisch schwierigen Fällen zu tun hast, Schulverweigerern o.ä.? Gibt es einen? Verhalten ergibt immer einen Sinn, zumindest für die sich verhaltende Person in diesem Moment. Es gibt keinen Trick, sondern es geht darum, eine Beziehung aufzubauen, verlässlich und hartnäckig zu bleiben, zuzuhören und zu verstehen, sich in den anderen hineinzuversetzen und empathisch zu sein. Einem Schulverweigerer zu sagen, dass er in die Schule gehen muss, bringt gar nichts. Zu ihm zu gehen und ihn kennenzulernen, das ist ein erster Schritt. Etwas zu finden, was ihn motiviert und was er gut kann, ist ein zweiter. Gemeinsam Zeit zu verbringen, zu reden und zuzuhören, das baut allmählich eine Beziehung auf. Musterunterbrechungen sind hilfreich (z.B. mit meinem Hund); Erwartungen und Wünsche, Sorgen und Ängste herauszufinden und gemeinsam zu bearbeiten, ein weiterer Schritt. Kein Kind ist aus purer Faulheit und Bequemlichkeit ein Schulschwänzer. Meist stecken ganz andere Probleme dahinter – die gilt es zu entlarven und dann gemeinsam zu lösen.
„Es geht bei auffälligen Kindern und Jugendlichen darum, eine Beziehung aufzubauen, verlässlich und hartnäckig zu bleiben, zuzuhören und zu verstehen, sich in den anderen hineinzuversetzen und empathisch zu sein.“
Was, glaubst du, steckt hinter solchen Problemen? Kinder reagieren auf familiäre Probleme äußerst sensibel und zeigen das in ihrem Verhalten. Manche werden ganz still, antriebslos und fressen alles in sich hinein. Andere werden eher extrovertiert und reagieren durch aggressives Verhalten, sind rebellisch oder sie verweigern sich. Solche Symptome zeigen sich dann oft in der Schule, weil Kinder einfach einen Großteil ihrer Zeit dort verbringen. Leistungsabfall, negatives Verhalten oder Schulschwänzen kann also ganz andere Ursachen haben: Trennung der Eltern, schwere Krankheit oder Tod eines Angehörigen, psychische Erkrankungen oder Suchtverhalten von Eltern, traumatische Erlebnisse, Missbrauch, Unfälle, emotionale Vernachlässigung usw. Ich habe auch schon Kinder kennengelernt, die nicht in die Schule gehen konnten, weil sie auf jüngere Geschwister aufpassen, den Haushalt schmeißen oder ihre Mütter vor gewalttätigen Partnern schützen mussten. Die haben dann das Schulschwänzen in Kauf genommen. Es können aber auch Probleme innerhalb der Schule sein, mit denen die Kinder überfordert sind, beispielsweise Mobbing, fiese Lehrer oder eine echte Überforderung mit dem Lernstoff.
„Eltern sollten ihren Kindern Halt, Sicherheit und Orientierung geben, aber vor allem Liebe, echte, aufrichtige Liebe in allen Lebenslagen.“
Deine Meinung bitte: Was kann man als Eltern in Sachen Erziehung ganz falsch machen, was ganz richtig? Es gibt kein Patentrezept für Erziehung, weil es sich um sehr individuelle Beziehungen zwischen Menschen (Eltern und Kindern) handelt. Selbst innerhalb einer Familie gibt es Unterschiede, zwischen Mutter und Vater, zwischen den Geschwistern und im weiteren Familienkreis. Dazu kommt, dass jeder Elternteil selbst auch in einer anderen Beziehungskonstellation Kind seiner Eltern ist. Das prägt und beeinflusst die eigene Erziehung natürlich.
Ich erlebe immer wieder, dass Eltern sich vom Verhalten ihrer Kinder persönlich angegriffen und verletzt fühlen. Sie reagieren dann aus ihrer eigenen (kindlichen) Bedürftigkeit heraus und werden ihrem Kind so nicht gerecht.
- Kein Baby ärgert durch Schreien seine Eltern; Babys machen überhaupt noch nichts bewusst und gezielt, sie lernen erstmal die grundlegenden sozialen Regeln und brauchen das Gefühl unbedingter Sicherheit und die Befriedigung aller ihrer Bedürfnisse sofort.
- Kein Kleinkind beschimpft und bockt im Supermarkt, um die Mutter zu blamieren, sondern weil es seine Gefühle und Impulse noch nicht besser kanalisieren kann.
- Kein Schulkind verliert den neuen teuren Füller oder das fünfte Paar Handschuhe, um seine Eltern zu ärgern, die sowieso gerade Geldprobleme haben. Nein, es ist in der Schule einfach mit den vielen Inputs und Reizen überfordert, um dann auch noch an den Füller zu denken.
- Kein Jugendlicher kommt abends zu spät nach Hause, hat die Spülmaschine nicht ausgeräumt und den teuren Klavierunterricht versäumt, weil er respektlos die Regeln der Eltern missachtet, sondern er braucht das für seinen entwicklungspsychologischen Schritt ins Erwachsenenleben einfach. Außerdem spielen Hormone und Synapsen völlig verrückt – da ist Denken sowieso schwierig.
Es ist gut, sein eigenes Erziehungsverhalten hin und wieder zu reflektieren und sich zu fragen: Warum habe ich da so oder so reagiert? Es ist wichtig, sich in die Perspektive seines Kindes hineinzuversetzen – aber das Gegenteil kann man nicht erwarten. Es ist gut, Interesse an der Lebenswelt des Kindes zu haben und sich seiner Verantwortung als Erziehender bewusst zu sein. Kinder müssen ihre Eltern nicht immer toll finden und lieb haben, sie dürfen auch mal sauer sein, weil sie ins Bett gehen müssen oder ihr Zimmer aufräumen sollen. Eltern allerdings sollten ihre Kinder immer lieben, sie toll finden und stolz auf sie sein. Eltern sollten ihren Kindern Halt, Sicherheit und Orientierung geben, aber vor allem Liebe, echte, aufrichtige Liebe in allen Lebenslagen.
Vielen Dank, liebe Tine. Es freut mich sehr, dass du da bist. Ich freue mich auf deine spannenden Inhalte bei uns.
Weitere neue Redakteure im Interview
Sabine

Valeska

Judith

Mit unserer Contributorin Judith Möhlenhof haben wir nicht nur endlich auch die schöne Stadt Hamburg im Team, sondern auch eine sehr gefühlvolle und wortstarke Frau, die keine Scheu hat, auch über die schwierigen Momente im Mama-Dasein zu sprechen. HIER geht’s zu ihrem Interview.