Gyde Jensen mit Baby vor dem Reichstag

Bundestagsabgeordnete: 100 Stunden Arbeit und Familie?

“In der Einschätzung, wer in der Gesellschaft Respekt genießt, befinden sich die Berufsgruppen Politiker (25 Prozent), Journalisten (31 Prozent) und Gewerkschafter (33 Prozent) am Ende der Liste.”

Das mangelnde Ansehen ist das eine. Extreme Aggression gegenüber Politiker*innen geht noch weiter und ist inzwischen so üblich, dass so manche*r Politiker*in sich nicht anders zu behelfen weiß, als nicht mehr anzutreten oder gar einen Waffenschein zu beantragen. Ob das wirklich ein geeignetes Mittel ist, um als Politiker*in sicher zu leben, das sei mal dahingestellt (okay – also hier nur kurz meine Meinung: ist es nicht). Woher kommt der mangelnde Respekt bis hin zur absolut grenzüberschreitenden Gewalt?

Warum ist es im Plenum immer so leer?!

Seit 2008 arbeite ich in der Politik. Seit 2012 im Bundestag, als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Abgeordnete. Immer wieder lese ich: die Reihen im Plenum zu dem und dem Thema seien so leer, was machen die Abgeordneten eigentlich die ganze Zeit, sie wären faul und so weiter und so fort.

Das ärgert mich.

Denn es ist – aus eigener Erfahrung – ganz gegenteilig. Wenn die Abgeordneten gerade nicht im Plenarsaal sitzen, weil das Thema sie nicht betrifft, haben sie andere Arbeit zu tun. Fachgespräche, Recherche, Büroarbeit, Außentermine, und und und. Bei Bundestagsabgeordneten mit kleinen Kindern, ist die Arbeitsbelastung noch anspruchsvoller. Das Problem scheint zu sein, dass viele Menschen gar nicht so einschätzen können, was Abgeordnete eigentlich alles tun und dass Fernbleiben von der Plenarsitzung mitnichten bedeutet, dass sie in der Zeit auf dem Sofa rumhängen und nichts tun.

Katrin Helling-Plahr in ihrem Bundestagsbüro
Katrin Helling-Plahr in ihrem Bundestagsbüro

Deshalb lasse ich in diesem Beitrag die Abgeordneten selbst zu Wort kommen und habe gezielt Abgeordnete mit (kleinen) Kindern angefragt. Es gibt für gewählte Volksvertreter*innen keine Elternzeit. Es muss also der oder die Partner*in die Hauptlast der Care Arbeit tragen oder mal umgekehrt formuliert, darf so nah miterleben, wie das Baby sich im ersten Jahr entwickelt – während der/die Abgeordnete 60 – 100 Stunden pro Woche arbeitet. Das Bundesverfassungsgericht hat 2007 begründet, dass Abgeordnete keine Elternzeit nehmen können, weil gewählte Mandatsträger*innen nicht ersetzbar seien und deshalb nicht so lange pausieren könnten. Eine interfraktionelle Gruppe namens “Eltern in der Politik” (http://www.eltern-in-der-politik.de/) versucht nun, einen Kompromiss zu finden: “Wir brauchen in der Politik Menschen, die nicht nur über Familienpolitik reden, sondern auch familiäre Verantwortung tragen.”

Die Initiative schlägt vier Änderungen vor. Erstens: Babies und Kleinkinder sollten im Einzelfall mit Zustimmung des Präsidiums im Plenum bei ihren Eltern sein dürfen. Denn das ist bislang nicht möglich. Nur in Ausnahmefällen können Babys zu namentlichen Abstimmungen mit genommen werden. Szenen wie in Neuseeland sucht man hierzulande vergeblich. Im Gegenteil: 2018 flog die Abgeordnete Madeleine Henfling aus der Landtagssitzung in Thüringen, weil sie ihren Säugling dabei hatte.

Money Money Money

Die Abgeordnetenentschädigung beträgt monatlich 10.083,47 Euro (einkommensteuerpflichtig). Daneben erhalten sie eine steuerfreie Kostenpauschale über 4.497,67 Euro, mit der sie die Miete für ihre Wahlkreisbüros, deren Ausstattung und zum Beispiel auch die Miete des Zweitwohnsitzes in Berlin bezahlen können. Wie genau sie das Geld ausgeben, wird nicht kontrolliert. Daneben gibt es noch einen Topf für Aufwendungen im Bundestagsbüro, den Betrieb einer Homepage oder sonstigen Bürogeräten. Die Abgeordneten haben dafür ein jährliches Budget von 12.000 Euro im Jahr, bei dem sie über den Nachweis einer Rechnung bestimmte Auslagen erstattet bekommen. Für die Beschäftigung von Mitarbeiter*innen haben Abgeordnete ein Budget von 22.201 Euro im Monat zur Verfügung. Das klingt erstmal üppig – die Summe soll aber dazu dienen, den Politiker*innen den Job schmackhaft zu machen, auch wenn sie bei vergleichbarem Arbeitsaufwand in der freien Wirtschaft (zum Teil deutlich) mehr verdienen könnten. Im Grundgesetz heißt es dazu: “Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.” (Artikel 48 Absatz 3 GG)

Quelle: YouTube / Euro News.

Vereinbarkeit von Job und Familie? Im Bundestag schwierig.

Außerdem sollte nach Ansicht von „Eltern in der Politik“ zukünftig im “Protokoll bei namentlichen Abstimmungen vermerkt werden, wenn Abgeordnete auf Grund ihres Mutterschutzes fehlen. Darüber hinaus soll jeder Abgeordnete freiwillig die Möglichkeit haben, einen Grund für sein Fehlen bei namentlichen Abstimmungen anzugeben und damit Gründe wie etwa die Krankheit eines Kindes transparent zu machen.” Bislang nämlich gelten Abgeordnete, die viele Abstimmungen verpassen schlicht als faul. Egal, ob sie gerade im Mutterschutz sind, oder sich um ihr Kind kümmern müssen.

Ein weiterer Vorschlag: so wie im baden-württembergischen Landtag könnten weibliche und männliche Bundestagsabgeordnete unterstützt werden, die im ersten Jahr nach der Geburt eines Kindes mehr Zeit für Familie haben wollen. Die Fraktionen verpflichten sich, dies z. B. durch Vereinbarungen über Pairing und fraktionsinterne Vertretungsregeln auch zu ermöglichen. Immerhin eine Forderung hat sich nun nach dem Zusammenbruch zweier Abgeordneter nun erledigt: seit November letzten Jahres gibt es keine Nachtsitzungen mehr im Bundestag.

Bundestagsabgeordnete am Limit

Ich habe verschiedene Bundestagsabgeordnete mit kleinen Kindern befragt: Was macht den Hauptteil ihrer Arbeit aus? “Die Vorbereitung: egal ob Ausschussitzung, Plenum, Presseanfrage oder Podiumsdiskussion – jeder Termin will vorbereitet, jede inhaltliche Frage durchdacht sein”, erläuterte Katrin Helling-Plahr, FDP zum Beispiel. Die LINKE Abgeordnete Nicole Gohlke weist noch auf die Arbeit im Wahlkreis hin: “Wenn ich in München bin, treffe ich mich mit Engagierten aus der Zivilgesellschaft sowie interessierten Bürger*innen. Zudem bin ich in München ehrenamtlich Vorsitzende des LINKEN Kreisverbandes – auch das erfordert viel Zeit.” 

Daniel Föst, Bundestagsabgeordneter in der FDP Fraktion mit seiner Familie
Daniel Föst, Bundestagsabgeordneter in der FDP Fraktion mit seiner Familie

Abgeordnete haben keine festen Arbeitszeiten, viele Termine sind Abends und auch am Wochenende. Wie schafft man es bei so einem Pensum, sich überhaupt Freiräume zu erhalten? Daniel Föst von der FDP und seine Frau sind beide berufstätig. Er meinte zu der Frage: “Das bedeutet viel Organisation und Abstimmung, aber wir haben den Dreh mittlerweile raus. Wir verbringen soviel Zeit wie möglich miteinander. Durch Internet und Handy kann ich beispielsweise viele Büroerledigungen, Redenschreiben, Recherche oder Pressearbeit von Zuhause aus machen. Das erleichtert vieles. Dennoch ist man als Politiker enorm viel unterwegs. Das geht als Familie nur mit einem starken Partner. Für diese Unterstützung bin ich meiner Frau sehr dankbar, sie macht einen wahnsinnigen Job.”

„Sie macht einen wahnsinnigen Job“

Die Linke Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke: „Als Bundestagsabgeordnete sind wir letztlich stark privilegiert.“
Die Linke Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke: „Als Bundestagsabgeordnete sind wir letztlich stark privilegiert.“ / Bild: Instagram, Nicole Gohlke

Trotz der hohen Arbeitsbelastung ist den meisten Abgeordneten aber auch klar: sie haben umgekehrt Privilegien, die manches vereinfachen. Sie können sich Babysitter*innen leisten und sich die meisten Termine frei einteilen – “anders als beispielsweise Schichtarbeiter*innen mit Kindern, die in Krankenhäusern oder Supermärkten an Samstagen und Sonntagen arbeiten müssen, was für viele eine große persönliche Belastung ist”, so Nicole Gohlke von der LINKEN. Auch die SPD Abgeordnete Daniela Kolbe findet: “Ersteinmal sind Bundestagsabgeordnete finanziell in einer Luxussituation. Ich fühle mich – vor allem im Vergleich zu Alleinerziehenden – sehr privilegiert.”

Aber wie genau macht man das, gleich nach dem Mutterschutz parat stehen? Ich erinnere mich ungern daran, wie wackelig ich nach der Geburt meines Winterbabys auf den Beinen war. Ich brauchte meine Zeit und war noch lange angeknockt, körperlich und psychisch. Daniela Kolbe (SPD) empfand den schnellen Wiedereinstieg als Herausforderung und erzählte: “Um den Wiedereinstieg nach dem Mutterschutz bewerkstelligen zu können, habe ich mit meiner Mutter einen Arbeitsvertrag geschlossen. Sie ist mitgekommen und hat die Betreuung übernommen, wenn ich Termine hatte. Das hat erstaunlich gut geklappt.”

Die SPD Politikerin Daniela Kolbe im Plenarsaal.
Die SPD Politikerin Daniela Kolbe im Plenarsaal / Foto: www.daniela-kolbe.de

Katrin Helling-Plahr von der FDP meinte zu mir: “Mein Mann und ich wuppen das zusammen. Das beinhaltet viel Pendelei und Kompromisse, aber wenn man keine frühe Fremdbetreuung in Anspruch nehmen möchte, geht es nur so.” Und: “Ich würde mir wünschen, dass Säuglinge zukünftig mit ins Plenum dürften.” Genauso sieht das auch Gyde Jensen von der FDP, die seit September Mutter einer kleinen Tochter ist: “Dass ich meine Tochter laut Auslegung der Geschäftsordnung nur nach Genehmigung des Diensthabenden Präsidenten und nur zu namentlichen Abstimmungen mit ins Plenum nehmen darf, finde ich nicht mehr zeitgemäß.” 

“Allen Kritikern, Angsthasen und Kollegen, die das Kindeswohl gefährdet sehen, kann ich nur sagen: es versteht sich von selbst, dass ich nicht mit einem schreienden, hungrigen oder kranken Kind ins Plenum gehen würde. (…) Wenn wir wollen, dass vor allem auch Frauen Familie und Beruf miteinander vereinbaren können, dann sollten wir in diesem Bereich neu denken und nicht in alten Bildern verharren.” (Gyde Jensen, FDP)

Thomas Hitschler von der SPD erzählte: “Die ersten fünf Wochen nach der Geburt war ich daheim bei Kind und Familie. Nicht nur, um für mein Kind da zu sein, sondern auch, um meine Frau zu unterstützen.” Er findet, im Jahr 2020 müsse man über Möglichkeiten nachdenken, wie man es jungen Abgeordneten ermöglichen könne, ihre Kinder zu betreuen und die Familien zu unterstützen. Seine Kollegin Daniela Kolbe befürchtet, wirklich familienfreundlich könne der Bundestag wohl nie werden: “Mit Sorge sehe ich auch, dass die Anzahl der Sitzungswochen stetig wächst. Das macht es Abgeordneten mit kleinen Kindern zunehmend schwerer. Viele ziehen notgedrungen nach Berlin und darunter leiden dann die Wahlkreise. So sollte es eigentlich nicht laufen müssen.” 

Mein Wunsch wäre es, dass durch Beiträge wie diese gesehen wird, was für eine Arbeit unsere Politiker*innen eigentlich leisten. Man kann verschiedener Meinung sein, diskutieren und sich auch über inhaltliche Entscheidungen ärgern. Aber letztlich sind auch Abgeordnete Menschen mit Familie, die ihrer verantwortungsvollen Arbeit so gut es eben geht nachkommen und mit bis zu 100 Arbeitsstunden pro Woche ein gewaltiges Pensum haben. Sachliche Kritik und politische Debatte ist das eine – Aggression und Beschimpfungen hingegen ein No Go.

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Sabine Ponath kommt als Exil-Bayerin aus einem kleinen Dorf und lebt seit einiger Zeit in Berlin. Seit 2006 ist sie immer mal mehr, mal weniger politisch aktiv bei den Grünen. Zum Beispiel hat sie schon für den Bayerischen Landtag kandidiert oder war Sprecherin der Grünen Jugend Bayern. Die Leidenschaft hat sie sich zum Beruf gemacht und arbeitet seit 2008 als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Abgeordnete, erst im Landtag, dann im Bundestag. Dabei hat sie ihren Magister eigentlich in Pädagogik, Psychologie und Soziologie gemacht. Seit 2015 schreibt Sabine außerdem auf ihrem Blog „Mum & still me“, nicht nur über Politik, auch über ihr Leben als Zweifachmama und was sonst noch dazugehört.

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