Das längste kürzeste Jahr – mein Jahr nach dem Tod meiner Tochter (Teil 1)
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In meinem letzten Artikel habe ich von unserem Tag mit unserer Tochter Greta erzählt. Der Artikel schrieb sich damals quasi von selbst. Die Worte flossen aus mir raus, ich weinte viel beim Schreiben. Es tat so gut, es endlich alles zu erzählen und der kleinen Maus so viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Aber bereits beim Schreiben wusste ich, dass der eigentlich viel wichtigere Artikel der Folgeartikel sein würde. Denn betroffene Eltern oder Freunde von betroffenen Eltern brauchen viel mehr einen Artikel, der ihnen in den schlimmen Momenten sagt „ihr überlebt das“ und „ob ihr es glaubt oder nicht, es wird wieder besser“ oder eben auch „das könnt ihr tun, wenn ihr Freunden helfen wollt“. Betroffene Eltern möchten vermutlich gar nicht meine Leidensgeschichte lesen – sie haben selbst genug erlebt – sondern vielmehr wissen, wie mein erstes Jahr ohne Greta aussah. Was nach der Beerdigung passierte. Was und wie es war, wenn das Leben von allen anderen weiterging und die liebevollen Anrufe und die Aufmerksamkeit nachließ.
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Eines vorweg: dieser Artikel fällt mir sehr viel schwerer. Nicht aus Gründen der Trauer. Aber es ist ein schwieriger Grad, denn ich möchte nicht den Anschein erwecken, dass ich allgemeingültige Patentrezepte gegen Trauer hätte. Ich weiß sehr wohl, wie individuell jeder mit seiner Trauer umgeht. Und dass Dinge, die mir geholfen haben, sicherlich nicht für jeden das Richtige sind. Bitte behaltet dies stets im Hinterkopf, wenn ihr das lest. Es geht um meine Erfahrungen und ich hoffe sehr, dass ich damit Mut machen oder einfach Anregungen geben kann, was einem auf dem Weg hilft.
Ich habe diesen Artikel in zwei Teile geteilt. Er wurde einfach zu lang. Im ersten Teil gehe ich eher chronologisch vor und beschreibe die ersten Stunden, Tage, Wochen und Monate. Der zweite Teil wird sich eher themenbezogen dann um Bereiche wie „Die Partnerschaft“, „Babybäuche und Schwangerschaften“ und das „Umfeld“ drehen. Der zweite Teil wird nächste Woche erscheinen.
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Die ersten Stunden und Tage – wenn die Realität Angst macht
Wenn ich an die ersten Stunden und Tage nach Gretas Tod denke, dann fühlt sich alles taub und irgendwie wie unter einem Schleier an. Man war stumpf und dennoch weinte man die ganze Zeit. Das Leben machte überhaupt keinen Sinn mehr, Lachen oder Freude wirkten wie Emotionen, die man nie mehr kennen wird. Ich lag paralysiert in meinem Krankenhausbett und erlaubte mir noch nicht einmal duschen zu gehen geschweige denn ein Buch zu lesen am Abend. Ich erlaubte mir keinerlei „normale“ Tätigkeiten. Ich war in dem Schmerz meiner Tochter so nah, diesen auch nur für Momente loszulassen, das wagte ich nicht. Und ich erlaubte es mir nicht. Das sei ganz normal wurde mir von der Psychologin gesagt. Ich glaube sie nannte es Mütterliche Depression. Eines Abends schaute sie mich lange an in unserem Gespräch und sagte mir „es ist nur duschen“. Sie wiederholte diesen Satz sehr oft. Sie versuchte mir Dinge einzureden, die ich mir erlauben durfte. Dass Greta nicht nur im Schmerz bei mir sei. Nicht nur in der Trauer. Das Duschen ging irgendwann und auch noch im Krankenhaus schaffte ich es, abends mein Buch zur Hand zu nehmen. Ich fühlte mich die ganze Zeit schlecht. Einen Moment nicht an sie zu denken, das ging für mich nicht. Zumal direkt das nächste Erleben dazu kam. Eines, das mich das ganze Jahr begleitete: der Gedanke „als ich das Buch das letzte Mal las, war noch alles gut“. Ich tat also das erste Mal wieder etwas, das ich das erste Mal ohne sie tat. Für mich, und das ist wohl allgemein so nach einem solchen Trauma, gab es nur noch eine Zeitrechnung: davor und danach. Davor war noch alles gut. Alles ein erstes Mal wieder machen, ohne dass sie dabei ist. Und obgleich Greta vorher nur in meinem Bauch dabei war, war es eben doch so.
Meine Angst vor der Realität, davor, dass die Welt sich weiter dreht, sie war so groß. Normale Tätigkeiten bedeuteten, dass ich ebenso weiter mache. Das ging nicht. Ich wollte auch nicht verstehen, wie sich die Welt von allen anderen weiterdrehen konnte, nun da meine Tochter gestorben war. Für mich stand doch alles still.
Die ersten Tage auf der Wöchnerinnenstation waren wie ein schützender Kokon für uns. Wir wurden wunderbar betreut, alle waren so berührt und ließen uns in unserer Trauer sein, störten uns selten. In den ersten Tagen waren mein Mann und ich uns so nah wie glaube ich nie zuvor. Unsere Trauer verband uns, wir brauchten nicht reden um uns zu verstehen. Irgendwann aber kamen wir überein, dass Felix zu unserem Sohn David nach Hause sollte. Er war bei den Großeltern, aber auch für ihn war es ja alles schrecklich. Sein erstes richtiges Weihnachten und plötzlich waren Mama und Papa weg, die kleine Schwester nicht mehr im Bauch und Mama und Papa so traurig. Ich hatte zu dieser Zeit große Probleme, mich emotional auf David einzulassen. Ich freute mich, wenn er kam, ich las ihm Bücher vor, aber es kostete mich unendlich viel Kraft. Ich wollte nicht normal sein. Es tat mir so leid für ihn, und dennoch war es so wichtig, dass Felix und unsere Familie da waren für David, denn ich war einfach zu nicht viel in der Lage. Von Anfang an übernahm Felix diesen Part. Ihm tat es gut meinte er mit David Zeit zu verbringen, es lenkte ihn ab, es gab ihm Lebensfreude. Ich schaffte es nicht. Ich wollte in meinem Schmerz sein und gleichzeitig wusste ich, dass ich diesen nicht auf David lehnen darf. Diese zwei Welten passten für mich nicht zueinander. Und ich hatte, natürlich auch wegen der großen OP, einfach wenig Kraft. Ich konnte und durfte David ja noch nicht einmal hochheben. Zwei Tage nach Gretas Tod waren einige aus unserer Familie im Krankenhaus. Sie schoben mich im Rollstuhl das erste Mal vor das Krankenhaus um die Sonne zu sehen. Sie schien mir ins Gesicht und es hat mich zerrissen. Ich wollte einfach keine Schönheit, keine Sonne.
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Der erste Schritt aus dem Krankenhaus
Nach nur 5 Tagen verließ ich das Krankenhaus. Plötzlich kamen lauter Babies zur Welt, die irgendwie zwischen Weihnachten und Silvester ans Licht wollten. Ich hörte die ganze Nacht Baby Geschrei. Ich hielt es nicht aus. Ich wusste, es war an der Zeit, meinen Kokon zu verlassen. Der Schutzkokon, der die ersten Tage sehr wichtig und gut war, war nicht mehr richtig. Ich hatte dennoch so große Angst vor der Wohnung meiner Schwiegereltern. Vor dem Zimmer, in dem es morgens mit den Schmerzen losgegangen war, wo der Notarzt kam. Ich sah alles noch genau vor mir. Ich kann meinen Schwiegereltern, meiner Schwägerin und meinem Schwager nicht genug dankbar sein. Bevor ich nach hause kam, wurde das gesamte Zimmer umgestaltet, das Bett verrückt, Möbel neu gekauft, das gesamte Zimmer sah anders aus. Und zudem wurden wir in ihr eigenes Zimmer gebracht und durften dort wohnen. Diese Empathie für unsere Ängste war unglaublich. Und ich glaube, es ist etwas sehr wichtiges in solch einer Situation: wenn möglich, Zimmer, die Erinnerungen wecken, umzugestalten. Evtl. können dies bereits Freunde oder Familie übernehmen. Aber bitte erst auf Nachfrage, denn ich habe eine Freundin, deren Tochter starb, und der es sehr wichtig bis heute ist, dass ihr Zimmer noch so aussieht, wie es damals war. Für uns war es nicht Gretas Zimmer, das geändert werden sollte, sondern vielmehr der Ort meines Traumas. Der Ort meiner Schmerzen und der Ort, an dem unsere Tochter ihre Chance auf ein Leben verlor. Solche Orte umzugestalten, befreit und ist manchmal die einzige Möglichkeit, diese Orte wieder mit neuen Erinnerungen zu füllen.
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Ich erlaubte mir keinerlei „normale Tätigkeiten“. Ich war in dem Schmerz meiner Tochter so nah, diesen auch nur für Momente loszulassen, das wagte ich nicht. Und ich erlaubte es mir nicht.
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Die Beerdigung – Rituale als Hilfe
Spätestens seit Gretas Beerdigung ist mir klar, welche Bedeutung Rituale haben. Und wie wichtig eine Beerdigung ist. Im ersten Moment waren wir von der Vorstellung, uns um alles rund um die Beerdigung kümmern zu müssen vollkommen überfordert. Uns wurde von mehreren Personen immer wieder die gleiche Organisation empfohlen – die AETAS. Wir riefen dort an und ein Mitarbeiter kam sogar zu uns nach Hause, da ich ja noch nicht wirklich gut laufen konnte. Wir hatten zwei sehr enge Freundinnen gefragt, ob sie uns bei allem rund um die Beerdigung unterstützen. Sie waren bei dem Termin auch dabei, sie waren unsere emotionalen Stützen und auch unsere Köpfe. Wir wussten, dass sie mitschreiben, wichtige Fragen, die uns evtl. nicht einfallen, stellen. Wir konnten uns einfach vollkommen auf sie verlassen. Sie gaben uns Sicherheit. Bevor wir den Termin hatten, sagte Felix er wolle eine Einäscherung und David solle nicht dabei sein. Es war seine Art, unseren Sohn schützen zu wollen. Ich dachte mir schnell, dass das nicht so ganz richtig sei, aber ich sagte noch nichts. Ich wollte den Termin abwarten. Das einzige was ich wusste war: ich möchte eine große Beerdigung. Also zumindest viele Leute, denn Greta kam und ging so still und leise, ich wollte ihr Beachtung zukommen lassen. Der Termin war wunderbar. Ehrlich. Wir wurden so empathisch an Gedanken und Konzepte herangeführt, es wurde uns erläutert, was wir für David tun können, was wir beachten sollten etc. Gleichzeitig wurde allen unseren Wünschen und Gedanken Raum gegeben. Wir vereinbarten komplett andere Dinge. Alles machte so viel Sinn. Wir bekamen zusätzlich unglaublich viel Unterstützung durch die Kinderstiftung der AETAS.
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Wir bekamen eine eigene Betreuerin, die uns genau erklärte, wie unser 3 jähriger Sohn den Tod verstehen könnte, wie wir ihm eine Beerdigung erklären etc. Wir wären aufgeschmissen gewesen ohne diese Hilfe. Es war für uns und für David so wichtig und ich glaube wirklich, durch diese Unterstützung konnten wir David eine Traumatisierung ersparen, denn wir wussten genau, was wir sagen sollten und was nicht. Ein Abschied in den Räumlichkeiten der AETAS gemeinsam mit David. Das Bemalen des Sarges. Das gemeinsame Betten von Greta im Sarg. Und das in einer unglaublich ruhigen und liebevollen Atmosphäre. Unsere Tochter war zu dem Zeitpunkt bereits seit über einer Woche tot. Vorher hätte ich nie gedacht, wie viel Zeit ich noch mit ihrem toten Körper verbringen würde. Und wie wunderbar und wichtig es für uns wäre. David lernte seine Schwester kennen, er fasste sie an, er bemalte ihren Sarg mit den buntesten und schönsten Farben. Für mich war dieser intensive Kontakt mit dem toten Körper unfassbar wichtig. Denn es war so offensichtlich, dass es nur noch ihr Körper war. Der Unterschied zwischen einem lebenden und einem toten Menschen ist so beeindruckend. Man kann fast sehen, wie die Seele geht. Oder wie auch immer man es nennen möchte. Für mich hatte das etwas sehr beruhigendes. Denn ich wusste, dass ich nur ihren Körper begrabe und nicht meine Tochter. Und dennoch war der Moment, als wir den Sarg schlossen für mich schrecklich. Ich wusste, ich sehe sie nie wieder. Ich wollte sie nicht los lassen. Gute Freundinnen dabei zu haben, hat mir sehr geholfen, denn Felix war ja selbst in seiner Trauer.
Ich dachte vorher, der Anblick eines kleinen Kindersarges wäre für mich das Schlimmste. Aber der ganze gemeinsame Prozess, der intensive Abschied, all das hat mir den Abschied unglaublich erleichtert. Wir haben ihren Körper beerdigt. In einer wunderbaren, sehr bunten Beerdigung mit vielen unglaublich tollen Menschen, die von weit her kamen um uns beizustehen. Aber unsere Tochter, ihre Seele, unser Kind, die haben wir nicht unter die Erde gelassen. Sie war schon längst ganz woanders. Unser Stern im Himmel, die Wärme in unseren Herzen, die Liebe zwischen uns.
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Die Leere und der unbändige Wunsch nach einem weiteren Baby
Die Zeit bis zur Beerdigung vergeht irgendwie. Man hat immer wieder Aufgaben. Man bekommt Briefe, Nachrichten, man liegt im Bett und blickt zur Decke. Es kam Silvester, mein Geburtstag, all diese Tage gingen an einem vorbei. Um Mitternacht an Silvester kroch ich zu David unter die Decke und hielt mir die Ohren zu. Ich war sauer auf die Welt, die einfach weiter machte…
An meinem Geburtstag wollte ich mit keinem sprechen. Ich war sauer auf die Leute, die mir nicht schrieben und ebenso irgendwie genervt von denen, die schrieben. Die meisten ignorierten in dem Jahr meinen Geburtstag. Ich denke alle dachten, es wäre unpassend mir jetzt zu gratulieren. Ich glaube der schönste Text, der mich erreichte war etwas wie „ich denke heute ganz besonders an dich“. Er drückte irgendwie alles aus. Keine Glückwünsche (wozu auch) und gleichzeitig kein ignorieren.
Die ersten Tage und Wochen waren für mich geprägt durch die Frage nach dem Warum und das Verstehen wollen. Ich las alle wissenschaftlichen Artikel, die ich zu meinem Ereignis finden konnte. Es sind nicht viele, eine Uterus Torsion gibt es quasi kaum. Das „warum“ hörte schnell auf. Felix überzeugte mich schnell, dass die Frage mich sonst umbringen würde. Sie würde niemals beantwortet werden. Ich konzentrierte mich auf das Verstehen, wie es dazu kommen konnte, was passiert war. Wir trafen die Ärztin, die mich gerettet hatte nochmals, sie beantwortete mir alle Fragen. Aber auch die Ärzte waren überfragt. So etwas hatten sie nie gesehen und man wird auch nie feststellen können, wie es dazu kam. Und ob man es hätte verhindern können. Es ist eine Gegebenheit, die mich in einer eventuellen Folgeschwangerschaft sehr begleiten wird, die sehr viel Angst bereiten wird, die ein Risiko darstellt. Aber das war bereits einer der wichtigsten Punkte zu der Zeit: eine Folgeschwangerschaft. Als mir die Ärztin nach meiner OP mitteilte, dass sie meinen Uterus retten konnten, war mir zunächst im Nebel meiner Schmerzmittel nicht bewusst, wie unglaublich wichtig diese Nachricht war. Sie sagten mir sehr schnell, dass ich noch Kinder bekommen könne. Einige Tage später wurde es zum wichtigsten Punkt überhaupt. Ich habe mit so vielen Müttern gesprochen, die ihre Kinder verloren haben. Und fast alle haben eines gemeinsam: der sofortige unbändige Wunsch nach einem weiteren Baby. Am besten sofort. Für mich war es die ersten Wochen eine Qual, anzuerkennen, dass ich mindestens ein Jahr warten solle wegen der Narben. Ich habe eine Längsschnitt Narbe am Uterus, die müsse wirklich heilen. Für mich war es der Horror. Ich wollte ein Baby. Einige Freunde konnten diese Gefühle nicht nachvollziehen. Sie sagten, ich müsse heilen, innerlich und äußerlich. Natürlich hatten sie Recht, das weiß ich jetzt. Aber in dem Moment war es schrecklich. Ich zählte quasi die Monate, ich fragte und feilschte mit den Ärzten. Es war absurd. Mein Körper, meine Seele, alles verlange so sehr nach einem Baby. Ich habe gelesen, dass wenn man zu schnell wieder schwanger wird, man oftmals nach der Geburt in ein Loch fällt, wenn man quasi bemerkt, dass es ja ein anderes Baby ist. Denn so viel man danach beteuert, dass man sein Kind nicht ersetzen möchte, so schwer ist es evtl. die Seele davon zu überzeugen. Ich denke dennoch, dass das jeder für sich entscheiden sollte. Und jemand, der keine Narben hat und sofort loslegen darf, der sollte genau das tun, was sich für ihn richtig anfühlt. Denn nur darum geht es. Ich wurde zum Warten verdonnert, und mit jedem Monat, der verging, wurde der Gedanke leichter und es traten andere Dinge in den Vordergrund. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass es für mich vermutlich besser so war. Ich konnte und habe mich voll meiner Trauer gewidmet.
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Zurück in die Realität und der Start in die Trauerarbeit
Den ersten Monat nach Gretas Tod verbrachten wir noch bei meinen Schwiegereltern in München. Ende Januar wurde es dann Zeit, wieder nach Berlin zurück zu kehren. Da wir mit sehr viel Glück für Mitte Februar endlich einen Kitaplatz für David bekommen hatten, war es irgendwie der Start zurück in eine Realität, die wir uns aufbauen mussten. In einer Stadt, in der wir gerade mal zwei Monate gelebt hatten. Und obgleich wir noch nicht lange in der Stadt waren, erlebte ich dennoch jeden Schritt als „das letzte Mal, war ich noch schwanger“ oder „da war noch alles gut“. Diese Erlebnisse prägen die ersten Wochen und Monate sehr stark. Jeder Schritt, jeder noch so kleine Schritt, kostet Kraft aber ist ein guter Schritt. Wir fuhren einen Sonntag bei strahlender Sonne in den Park am Gleisdreieck. Wir waren gerade mal ein paar Minuten da, da hielt ich es nicht mehr aus. Die Tränen flossen ohne Ende. Zu viele Kinder, zu viele Babies, Bäuche, Kinderwagen. Wir fuhren wieder nach hause. Und dennoch war es ein Schritt. Ich wusste, dass es das nächste Mal evtl. länger dauert, bis ich weine, weil ich es ja schon einmal durch gemacht hatte. Und ich wusste, das wird ein langer Weg. Wir hatten die erste Zeit in Berlin noch viel Unterstützung von unserer Familie. Sie kamen aus München, um mich nicht allein zu lassen, wenn Felix wieder zur Arbeit ging. Zudem bekam ich eine Mütterpflegerin, die ganz wunderbar war und für mich kochte, einkaufte und einfach für mich da war. Meine Hebamme Sissi kam regelmäßig um sich um mich zu kümmern. Meist saßen wir einfach zusammen, redeten und weinten gemeinsam. Das tat ich mit den meisten Menschen.
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Wir waren gerade mal ein paar Minuten da, da hielt ich es nicht mehr aus. Die Tränen flossen ohne Ende. Zu viele Kinder, zu viele Babies, Bäuche, Kinderwagen. Wir fuhren wieder nach Hause. Und dennoch war es ein Schritt. Ich wusste, dass es das nächste Mal evtl. länger dauert, bis ich weine, weil ich es ja schon einmal durchgemacht hatte. Und ich wusste, das wird ein langer Weg.
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Wir versuchten es mit einer Trauergruppe. Wir hatten von einigen gehört, dass es ihnen sehr geholfen hätte, weil nur trauernde Eltern einen wirklich verstehen können. Das stimmt natürlich. Ich treffe und rede mit vielen verwaisten Eltern. Und man braucht wenig Worte, um sich zu verstehen.
Dennoch trafen wir bei dem Vorbereitungsgespräch für die Gruppe auf eine Dame, die so gar nicht zu uns passte. Sie war bevormundend und gab uns lauter Ratschläge, wie wir trauern sollten. Sie verglich uns mit ihr selbst nach dem Tod ihrer Mutter. Die Dame war selbst sicherlich über 60 und ich fand es damals anmaßend uns zu vergleichen. Das war sicherlich auch unfair von mir, aber ich finde immer, dass der Tod von Kindern einfach nichts ins Konzept passt. Eltern sollen vor Kindern gehen, nicht umgekehrt. Naja, wir kamen uns nicht gut aufgehoben vor und gingen nie wieder hin. Ich glaube dennoch, dass das jeder für sich entscheiden muss. Ich habe auch sehr viel Gutes über Gruppen z.B. der verwaisten Eltern gehört.
Ich hatte zur Beerdigung von meiner Patentante das Buch von Hannah Lothrop „Gute Hoffnung, jähes Ende“ bekommen. Und ich habe mir auch danach noch zwei Bücher gekauft. Ich muss ehrlich sagen, dass das Buch von Hannah Lothrop wirklich gut ist. Es hat mir geholfen und vor allem habe ich es wirklich gerne und zügig gelesen. Es ist sehr einfühlend geschrieben, gibt gute Beispiele und Erzählungen und ist nicht bevormundend. Alle weiteren Bücher habe ich ehrlich gesagt nicht gelesen. Ich habe immer angefangen, aber sie haben mich nicht abgeholt, mir nicht das gegeben, was ich gebraucht hätte.
Gerade nach einem körperlichen Trauma glaube ich fest daran, dass man sich mit seinem Körper aussöhnen muss. Die ersten Tage musste ich davon überzeugt werden, dass das Trauma dem Körper passiert ist und dass nicht mein Körper einen Killer-Uterus hat, der mein Kind getötet hat. Deshalb habe ich auch auf Anraten meiner Hebamme einige Körperbehandlungen gemacht. Massagen sollten mich wieder in meinen Körper bringen, mein Körpergefühl wiederherstellen. Das war für mich ein sehr wichtiger Schritt. Auch begann ich nach einigen Monaten sehr viel Yoga zu machen. Auch das war für mich ein guter Schritt zurück zu meinem Körper.
Der wohl bedeutendste war für mich meine Therapie. Ich habe über eine sehr liebe Empfehlung meine Therapeutin gefunden und ich bin ihr so dankbar. Wir arbeiten nun seit einem Jahr zusammen. Ich verdanke ihr so viel. Meine Ängste, meine Trauer, meine Wut, meine Verzweiflung, all meine Emotionen haben bei ihr einen Ort gefunden, wo sie sein durften, wo sie mir erklärt wurden, wo wir daran arbeiten konnten, sie zu verstehen. Sie behandelt viele Frauen, die Kinder verloren haben, sie selbst hat ein Kind verloren, sie versteht mich wie kaum jemand. Und sie ist eine tolle Frau, bei der ich mich vollends aufgehoben fühle. Für mich war die Therapie die Rettung aus meiner Dunkelheit.
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Die Zeit nach der akuten Trauer – Bruch zwischen Gesellschaft und Trauernden
Die ersten zwei bis drei Monate ist die Trauer vom Umfeld und von der Gesellschaft absolut akzeptiert. Es könnte als Phase der akuten Trauer beschrieben werden. Die Menschen haben vollstes Verständnis dafür, dass man traurig ist, es ist ja quasi gerade erst passiert. Man bekommt Briefe, viel Anteilnahme und Verständnis. Schwieriger allerdings wird es, wenn diese offizielle akute Trauerphase vorbei ist und inzwischen mehr als drei Monate vergangen sind. Dann verschiebt sich sehr plötzlich einiges. Es herrscht weniger Verständnis, warum man immer noch so traurig sei, dass es doch nun wirklich bereits einige Zeit vergangen sei… Wie meine Therapeutin sagte, gibt es kein rituell gesellschaftlich akzeptiertes Trauerjahr, wie in früheren Gemeinschaften. Die leistungsorientierte Gesellschaft möchte schnell in die Normalität zurück. Die Trauernden können (und sollen) dies jedoch nicht leisten. Aber genau da wird es zum Problem. Zum Spannungsfeld zwischen den Menschen, die trauern und allen anderen.
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Ich habe von Bekannten, die ein Kind verloren haben, gehört, dass Menschen sich nach drei Monaten wunderten, dass in Gesprächen das Kind „immer noch so ein großes Thema war“. Ernsthaft? Nach drei Monaten? Es wird den Rest unseres Lebens ein großes Thema sein. Und wie anmaßend ist es, wenn jemand der diese Gefühle in keinster Weise nachvollziehen kann, etwas Derartiges erwartet? Nun denkt man, solche Kommentare gäbe es doch nicht wirklich, aber es ist so. Trauer von anderen macht Menschen unsicher, sie können damit oft nicht umgehen. Drei Monate scheint für viele eine solch lange Periode zu sein, dass sie eben erwarten, man müsse doch dann schon wieder glücklicher sein. Man selbst merkt, dass bei allen die Normalität wieder läuft, man ist nicht mehr Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier fängt eine sehr schwere Zeit an. Es geht nicht darum, dass man das Zentrum bleiben möchte, aber es ist ein harter Bruch in dem Moment. Man selbst ist weit davon entfernt, etwas wie Normalität zu empfinden oder leben zu können, bei allen anderen geht es weiter.
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Ich hatte Mitte des Jahres, nach ca. fünf Monaten, ein Angebot für einen neuen Job. Es war sehr verlockend, es war ein spannender Job. Ich habe eine Probearbeit abgegeben und mich wirklich intensiv damit beschäftigt. Es war dennoch, als ob sich mein ganzer Körper dagegen sträubte. Ich bekam einen steifen Rücken, konnte mich kaum noch bewegen, hatte Beklemmungen und war sehr unsicher. Mir wurde klar, dass auch, wenn der Gedanke, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als mit mir selbst und meiner Trauer, für viele gut klang und die meisten mir durchaus zurieten, er für mich aber nicht funktionierte. Ich war nicht so weit. Ich hätte es sicherlich geschafft meine Arbeit zu machen, ich hätte aber meinen Trauerprozess im Entstehen abgebrochen und nicht zugelassen. Ich hätte mich mit Arbeit abgelenkt. Das hätte sicherlich eine gewisse Zeit auch funktioniert. Und die Entscheidung war hart. Ich wusste, jetzt in einen Job zu gehen, wäre das, was gesellschaftlich und vom Umfeld die akzeptierte oder sagen wir die funktionierende Entscheidung wäre. Es wäre gut für den Lebenslauf, es wäre passend, nach dem verwaisten Mutterschutz dann quasi direkt in einen neuen Job zu gehen. Alles das wäre der „straighte Weg“ gewesen. Und dennoch merkte ich: Ich kann es nicht. Egal wie sehr ich in meinem Leben in den absurdesten Momenten funktionieren konnte – was mir definitiv nicht gut getan hat – so konnte und wollte ich es diesmal nicht wieder so machen. Nicht wieder um jeden Preis funktionieren, nicht wieder etwas tun, um Erwartungen zu entsprechen.
Die Entscheidung, den Job nicht zu machen und stattdessen in die Krankschreibung zu gehen, war schwer. Ich bin ein ehrgeiziger Mensch, ich möchte erfolgreich sein, ich habe immer funktioniert. Mir in diesem Moment zu erlauben und zu sagen, ich gebe meiner Trauer jetzt den Raum, den sie braucht, ich gehe in die Krankschreibung und dann sehen wir weiter, das war nicht leicht. Aber es hat eine Phase meines Trauerprozesses ermöglicht, der für mich so wichtig war. Der nicht nur die akute Trauer erlaubt hatte, sondern der jetzt die wirklich tiefe, die zähe, die unbarmherzige und nicht öffentliche Trauer zuließ.
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Ich hatte natürlich das große Glück, dass es für uns finanziell möglich war auch in der Krankschreibung nicht in finanzielle Nöte zu kommen. Ich bin mir bewusst, dass das nicht immer der Fall ist. Aber auch für uns waren es natürlich Abstriche, aber das war es uns wert. Wir wussten, dass es wichtig ist. Ich kann aus meinen Erfahrungen deshalb nur raten: Nehmt euch alle Zeit der Welt. Hört ganz tief in euch, geht nicht den vermeintlich einfachsten Weg, geht den Weg, der in eurem Inneren am lautesten schreit. Es werden einige Menschen nicht verstehen, oder wenig Verständnis dafür haben. Sie werden erwarten, dass ihr schneller „heilt“. Aber es geht nur um euch. Nehmt euch Zeit, es wird euch langfristig einfach gut tun.
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Fotos: Julie privat; Gif via Giphy
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Gastbeitrag: Das erste Jahr ohne Leni.
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Kinderbücher zum Thema Tod und Sterben
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