Herzgeschichte – Teil 2
Durch den Herzfehler meines Babys und den längeren Aufenthalt in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) habe ich mir in den Wochen nach der Geburt quasi keine Pause gegönnt und das quittierte mein Körper mit einer schmerzhaften Brustentzündung, Milchstau und hohem Fieber. Ich war fast eine ganze Woche außer Gefecht. Erst danach ging es aufwärts, und unser fast normales Familienleben stellte sich endlich ein. Wir waren glücklich.
Aber der Herzfehler unseres Kindes war nicht behoben, sondern die lebensbedrohlichen Folgen lediglich abgemildert worden. Die Diagnose hieß mittelgradige Aortenklappenstenose mit Insuffizienz oder, auf Deutsch, die Herzklappe war immer noch verengt und nun auch undicht. Über kurz oder lang würde unser Sohn eine neue Herzklappe benötigen, damit sein Herz durch die besondere Belastung keinen dauerhaften Schaden nähme.
Die Jahre vergingen
Je älter ein Kind, desto besser die Chancen für ein geeignetes Spenderorgan und umso besser steckt der Körper einen solch großen Eingriff weg. Es ging also darum, den richtigen Moment für die Herzklappentransplantation zu finden und Zeit zu gewinnen. Das Herz wurde regelmäßig untersucht. Einmal im Monat, alle drei Monate, jedes halbe Jahr, dann jährlich. Die Abstände wurden größer, und die Werte bleiben glücklicherweise stabil. Die Jahre gingen dahin, und unser Sohn entwickelte sich ohne größere Einschränkungen und wuchs. Er durfte Fußball spielen, Radfahren, Schwimmen, am Schulsport teilnehmen und konnte, bis auf die jährlichen Herz-Untersuchungen, eine ganz normale Kindheit genießen.
Für mich als Mutter hing diese zu erwartende Herz-OP, die für mein Kind irgendwann lebensnotwendig werden würde, wie ein Damoklesschwert über ihm und über uns als Familie. Vor jeder Vorsorge-Untersuchung war ich angespannt, sehr angespannt. Die Angst war zu meinem ständigen Begleiter geworden. Ich habe sie gut in Schach gehalten und mich in den letzten Jahren mit vielen Dingen abgelenkt, mich in Projekte und Arbeit gestürzt. Womöglich habe ich auch aufgrund der erfahrenen Hilflosigkeit während der OP meines Babys einen ziemlich nervigen Kontrollzwang entwickelt.
Diese fiese Angst
Rückblickend betrachtet, sind das alles Überlebensstrategien, die ich gelernt habe, um mit dieser fiesen Angst klarzukommen – einer Angst, die mir tatsächlich schon sehr viel länger vertraut war, nicht erst seit der Geburt meines Kindes. Mit bereits sieben Jahren bin ich ihr erstmals begegnet, als mein kleiner Bruder zur Welt kam, ebenfalls mit einem Herzfehler, wenngleich mit einem ganz anderen und völlig ohne genetische Verbindung zu dem meines Kindes.
Schon früh habe ich sie also kennengelernt und auch, wie ich die Angst aushalten kann. Diese Zusammenhänge, mein Umgang mit dem ganzen Scheiß und welche Auswirkungen dies auf unsere Familie hatte, sind mir jedoch erst viel, viel später wirklich klar geworden. Dann nämlich, als der Zeitpunkt gekommen war, als die große Herz-OP, die Transplantation einer Aortenklappe bei meinem Sohn, nicht länger aufgeschoben werden konnte.
Es war endlich soweit
Es war im Februar 2020, 16 Jahre nach seiner Geburt. Sein Kardiologe teilte uns mit, dass wir uns nun wieder mit der MHH in Verbindung setzen sollten, um diesen lange erwarteten Eingriff zu veranlassen. Es war also endlich so weit. Mein Baby war inzwischen ein junger Mann, einen halben Kopf größer als ich, voller Flausen und mit großartigen Plänen für sein Leben.
In der ersten Voruntersuchung in Hannover wurde die Notwendigkeit der Operation bestätigt. Innerhalb der nächsten drei bis sechs Monate musste eine neue Herzklappe her, um eine dauerhafte Beeinträchtigung der Herzleistung zu verhindern. Mein Sohn hatte mit seinen Freunden für die Sommerferien eine Kanutour in Schweden geplant und natürlich auch schon gebucht. Für ihn war entscheidend, vor dem Sommer wieder fit zu sein und die OP so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, auf die er schon so lange wartete.
Doch dann kam Corona
Am ersten Tag der landesweiten Schulschließungen Mitte März 2020 hatte er eine weitere Untersuchung zur Vorbereitung der OP, ein Thorax-CT, Röntgen mit Kontrastmittel seines Oberkörpers. Die Stimmung im Krankenhaus an diesem Tag war gespenstisch. Alle liefen mit Mund-Nase-Schutz herum und blieben auf Abstand. In der Nacht zuvor wurde aus der MHH eine größere Menge Desinfektionsmittel gestohlen, und die Desinfektionsmittelspender waren nur unter Aufsicht zu benutzen. Die Ärzte, Pflegekräfte und das weitere Personal der MHH wirkten angespannt. Sie bereiteten sich auf eine Katastrophe vor, wie wir sie von den Bildern und Berichten aus Italien kannten.
Wir konnten damals nicht ahnen, dass die Maßnahmen der Regierung, der Lockdown des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, sich positiv auf den Verlauf der Corona-Pandemie in Deutschland auswirken würde. Somit konnte uns auch Mitte März niemand verbindlich sagen, ob die Herzklappentransplantation in naher Zukunft überhaupt stattfinden werden würde. Die Ärzte teilten uns nur mit, dass alle Eingriffe auf ihre Dringlichkeit und Notwendigkeit unter den Corona-Bedingungen neu bewertet werden müssten. Personal und Intensiv-Betten würden ggf. für Covid-19-Patienten gebraucht und für weitere akute Notfälle. Wir würden uns gedulden müssen und dann benachrichtigt werden.
Achterbahnfahrt der Gefühle
Die Achterbahnfahrt der Gefühle in diesen Wochen lässt sich kaum in Worte fassen. Es war ja für alle Familien, alle Menschen aufgrund der Corona-Maßnahmen dramatisch, aber wir haben in der Zeit noch ein paar extra Loopings gedreht. Wo andere nur auf Sicht fahren konnten, sind wir in völliger Dunkelheit unterwegs gewesen. Meine Sorge um eine Überlastung des Gesundheitssystems durch zu viele Covid-19-Patienten auf einmal war keine theoretische, sondern eine ganz konkrete Angst um das Leben meines Kindes, um seine Gesundheit, seine Zukunft.
Mit allen anderen Schwierigkeiten, vom Arbeiten im Homeoffice bei gleichzeitiger Versorgung der Kinder und Homeschooling bis hin zum Einkaufen von Klopapier unter erschwerten Bedingungen, hatten wir natürlich auch zu tun. Aber alles war überlagert von der einen großen Frage: Werden sie mein Kind operieren können? Und wenn ja, wie soll das funktionieren, wenn zeitgleich eine nie dagewesene Pandemie wütet?
Kurz vor Ostern erhielten wir per Post die Mitteilung, dass die OP stattfinden würde, unter Vorbehalt natürlich. Termin war der 14. Mai 2020. Während viele ihren ausgefallenen Osterurlaub bedauerten, freuten wir uns, dass unser Sohn es auf die Liste der lebensnotwendigen Operationen geschafft hatte.
Die Entwicklung der Pandemie, die ersten Lockerungen der Maßnahmen Mitte April, die Situation in den Krankenhäusern – all das verfolgten wir als Familie sehr gespannt. Es konnte doch jederzeit zu einer lokalen Ansteckungswelle in Hannover und Umgebung kommen und dann wäre wieder alles ungewiss. Wir konnten uns beim Einkaufen anstecken, und dann könnte die OP doch nicht stattfinden.
Meine Angst, die ja sowieso schon da war, nährte sich durch diese Unsicherheiten und zusätzlichen potenziellen Gefahren. Sie wuchs und wuchs und wurde immer größer. Es waren emotional sehr anstrengende Wochen, denn natürlich konnte ich mich weder von der Angst total vereinnahmen lassen, noch konnte ich vor ihr weglaufen. Aber mein Kind brauchte mich. Um ihn ging es schließlich, er musste sich diesem Eingriff stellen.
Fortsetzung folgt…
POST COMMENT