Jedes fünfte Kind

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Über Geld spricht man nicht, Geld hat man. Oder eben nicht. Dann muss man sich nur richtig, richtig doll anstrengen. Oder man hat einfach Pech gehabt. Zum Beispiel, wenn man erst nach 2005 geboren wurde. Die Wahl seiner Eltern und damit einhergehende familiäre Ressourcen und bessere Entwicklungschancen hängen einzig und allein von einem Faktor ab: dem Zufall.

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Seit Beginn des Jahres 2023 wissen wir dank der vielzitierten Veröffentlichung der Bertelsmann Stiftung: In Deutschland gilt jedes 5. Kind als armutsgefährdet. Das heißt, es muss von weniger als 60 % des durchschnittlichen Haushaltseinkommens leben. Das betrifft ca. 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche.

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Schockierend, bedrückend, abstrakt. Was bedeutet das für die Kinder und Jugendlichen im Alltag konkret? Durch meine Arbeit als Familienhelferin im Raum Salzgitter-Braunschweig, erlebe ich täglich, was es für Kinder und Jugendliche bedeutet in Armut aufzuwachsen.

 

So unterschiedlich Familien sind, so viele Facetten kann Armut haben, aber eines haben alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam: Ihr Risiko der Kindeswohlgefährdung ist signifikant höher.

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Eine gesunde Entwicklung ist gefährdet, da die Teilhabe an dem, was Kinder für ein gutes Aufwachsen brauchen, deutlich eingeschränkt ist. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Eltern trotz ihrer Armut, ihren Kindern nicht auch das Beste ermöglichen wollen – sie können es aber oft einfach nicht, denn die Möglichkeiten sind leider sehr, sehr begrenzt.

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Die Armut von Kindern und Jugendlichen darf uns nicht egal sein, denn gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen sind veränderbar. Sie könnten anders gestaltet werden, damit alle Kinder sicher und mit den gleichen Chancen auf gesunde Entwicklung, Erziehung und Bildung aufwachsen können. Falls wir uns als Gesellschaft nicht für die Kinder einsetzen, dann tut es niemand, dann bleibt Armut eine Gefahr für das Wohl von Kindern und Jugendlichen.

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Wer als junger Mensch in Armut aufwächst, leidet täglich unter Mangel, Verzicht und Scham und hat zugleich deutlich schlechtere Zukunftsaussichten. Das ist sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Gesellschaft als Ganzes untragbar

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Die Namen sind geändert und die Beispiele anonymisiert, aber ihre Geschichten sind echt. Es sind keine Einzelschicksale, sondern die alltägliche Realität für jedes fünfte Kind in Deutschland:

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Maja

9:00 Uhr Hausbesuch bei einer jungen, alleinerziehenden Mutter der vier Monate alten Maja. Die Mama ist müde, aber sie schafft das alles ganz gut und nimmt auch die Unterstützung an. Ich bemerke den unangenehmen Geruch und die deutlich volle Windel des Babys. „Oh, da müssen Sie wohl mal wieder die Windel wechseln!“ Die Mutter antwortet mir unsicher: „Ja, das mache ich, wenn sie gegangen sind.“ – „Wann haben Sie denn zuletzt die Windel gewechselt?“ – „Das ist mir jetzt echt unangenehm, aber wissen Sie, es ist Ende des Monats und ich hab kein Geld mehr und nun muss ich mit den Windeln zurechtkommen, die noch da sind.“ – „Wie viele sind das denn noch? Das reicht doch gar nicht…“ Die junge Mutter berichtet, dass sie das Wickeln so lange wie möglich hinauszögert. Dass sie jeden Vormittag mit ihrem Baby in die Innenstadt fährt und unterschiedliche Kaufhäuser und Drogeriemärkte ansteuert, in denen sie an der Wickelstation eine Gratiswindel bekommt. Sie kann ihr Kind noch etwa viermal am Tag wickeln und sie hofft, dass es diesen Monat noch reicht.

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Sophia

Sophia lebt in einer Großfamilie. Sie hat einen älteren und einen jüngeren Bruder und drei Schwestern. Die Mutter ist alleinerziehend. Die Wohnung ist klein und mit gebrauchten Möbeln eingerichtet. Sophia teilt sich ihr Zimmer mit den Schwestern. Das Geld ist knapp, aber es reicht. Dann geht die Waschmaschine kaputt. In einem 7-köpfigen Haushalt mit mehreren kleinen Kindern eine Katastrophe. Ich unterstütze die Mutter bei dem Antrag auf ein Darlehn beim Jobcenter für eine neue Waschmaschine. Der Wäscheberg ist nach drei Tagen eigentlich schon zu groß. Die Bearbeitung des Antrags dauert vier bis sechs Wochen. Vorher werden noch alle Einkünfte und das Vermögen geprüft. „Bitte reichen sie die Kontoauszüge der letzten drei Monate ein. Haben Sie auch ein Paypalkonto?“ Die Mutter hat eine Nachbarin gefragt und darf nun ab und zu deren Waschmaschine nutzen. Das reicht natürlich nur für das Nötigste. Sophia versucht, in der Schule nicht aufzufallen. Aber das gelingt ihr nicht, die anderen Kinder ärgern sie, weil sie immer die gleichen Sachen anhat und stinkt. Sophia kann nichts dagegen tun, sie lässt es über sich ergehen.

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Justin

Kurz vor den Herbstferien, die Klassenlehrerin informiert mich: „Justin habe wiederholt seine Schulsachen nicht dabei, er könne gar nicht mitarbeiten. Das Kopiergeld sei auch immer noch nicht bezahlt worden, was besonders ärgerlich sei, da sie für Justin immer die Seiten aus dem Arbeitsheft kopieren würde, damit er überhaupt etwas machen kann. Oft muss er sich dann von Mitschüler*innen auch noch einen Stift oder Radiergummi ausleihen. Und außerdem fehle seit drei Wochen Justins Brille.“ Ich bespreche die Rückmeldung mit den Eltern und erfahre, dass sie aufgrund einer hohen Stromnachzahlung im Sommer immer noch sehr knapp bei Kasse sind, Sie haben noch gar nicht alle Arbeitshefte und Materialien für das Schuljahr gekauft. Das Geld reicht gerade so, um über die Runden zu kommen. Im Klartext bedeutet das, dass etwas zu Essen auf den Tisch kommt, mehr Ausgaben sind nicht drin. Und dann ist auch noch Justins Brille kaputtgegangen. Eine Zusatzversicherung gibt es nicht. Da die Schwester unbedingt neue Schuhe für die Kita brauchte, könne sich die Familie erst im kommenden Monat um eine neue Brille kümmern.

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Laura

Von Geburt an hat Laura zwei unterschiedlich lange Beine und muss speziell angefertigte Schuhe tragen, damit ihre Hüfte keinen dauerhaften Haltungsschaden nimmt. Irgendwann wird sie deswegen operiert, aber erst, wenn sie in die Pubertät kommt. Bis dahin erhält sie jedes halbe Jahr ein Rezept über zwei paar Schuhe. Diese müssen dann in einem orthopädischen Fachgeschäft angefertigt werden. Weitere Schuhe müsste die Familie selbst bezahlen, das kann sie sich nicht leisten. Also gibt es ein paar Winterschuhe und ein paar leichte Turnschuhe (für den Sommer) und zwei paar Turnschuhe pro Jahr für den Sportunterricht. Hausschuhe für die Grundschule/den Hort gibt es leider nicht. Offene Sommerschuhe sind auch nicht drin und wenn die Füße sich beim Wachsen nicht an den sechs Monate Zeitraum halten, dann drücken die Schuhe eben so lange, bis es ein neues Rezept gibt. Inzwischen kauft Lauras Mama die neuen Schuhe auch immer eine Nummer größer, damit sie länger passen, und wenn sie kaputt gehen, dann hat sie Pech gehabt.

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Paul

Er ist ein ruhiger und schlauer 16-jähriger. Da seine Eltern viel arbeiten, ist er schon früh selbstständig geworden, steht morgens allein auf und geht allein zur Schule seit der 1. Klasse. Der Vater ein Fernkraftfahrer ist nur an den Wochenenden da und die Mutter arbeitet als Altenpflegeassistentin bei einem ambulanten Pflegedienst. Paul möchte gern Abitur machen, aber seine Eltern bestehen darauf, dass er erstmal eine Ausbildung macht. Ich frage nach, warum er denn nicht weiterhin zur Schule gehen kann, zumal er wirklich gute Noten und die Empfehlung seines Lehrers für die Oberstufe hat. Im Laufe des Gesprächs erfahre ich, dass die Eltern Angst haben, sich das Abitur ihres Sohnes nicht leisten zu können. Schulbücher können nicht mehr ausgeliehen werden, das sind etwa 150 Euro zusätzlich. Dazu kommen eine Kursfahrt und die Abschlussfahrt. Außerdem kann Paul dann nicht, wie geplant, zum Familieneinkommen beitragen, wie etwas mit einer Ausbildungsvergütung.

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Es gibt Kinder, die noch nie in ihrem Leben in den Urlaub gefahren sind, die auf einer Matratze auf dem Boden schlafen und ihre persönlichen (Spiel-)Sachen an einer Hand abzählen können und wie einen Schatz hüten. Es gibt Kinder, die zu Ihrer Einschulung das erste Mal ein neues Kleidungsstück gekauft bekommen und die sich in der Schule schämen, wenn die Lehrkraft die Klasse nach Ferienerlebnissen oder Weihnachtsgeschenken fragt. Es gibt Kinder, die würden gern Reiten oder ein Instrument lernen oder wenigstens jeden Tag eine warme Mahlzeit haben. Es gibt Kinder die eine besondere Therapie benötigen oder eine Zahnspange oder einen Platz für Hausaufgaben. Und es betrifft jedes fünfte Kind in Deutschland.

 

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Christine ist Mutter von zwei Teenager-Söhnen und Diplom-Pädagogin. Sie arbeitet als Familienhelferin im Raum Braunschweig/Salzgitter und begleitet benachteiligte Kinder, unterstützt herausfordernde Jugendliche und sucht neue Perspektiven für abgehängte Familien. Ihre Leidenschaft gilt dem Gärtnern, ihrem Hund Nero und noch vielem mehr.

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