Unter Umständen hatten meine Eltern andere Sorgen als einen Schulranzen aus Ozeanmüll

Fotos: Kai Senf
Dieser Text ist in einer kürzeren Fassung zuerst auf hauptstadtmutti.de erschienen und später in Elina Penners Buch Migrantenmutti. Migrantenmutti ist das zweite Buch Elina Penners und alles dreht sich um die wirklich wichtigen Dinge: Elternschaft und wie politisch sie ist. Es geht dabei um Dinge, die auf den ersten Blick wenig kontrovers anmuten: den Kauf eines Schulranzens, das Sitzenbleiben der Kinder am Tisch nach dem Essen oder Medienkonsum. 2022 erschien Elinas erster Roman ‚Nachtbeeren‚ und 2023 die Essaysammlung ‚Migrantenmutti‘ im Aufbau Verlag. Artikel von ihr sind in der Vogue, dem Spiegel, Emotion Magazin, 11 Freunde, Vice Broadly, und vielen anderen erschienen.
Ihre Stimme ist eine migrantische Perspektive auf das Thema Elternschaft. Elina Penner lebt mit Mann und zwei Kindern in Minden. Und ich bin ein Fangirl der ersten Stunde.

Vor Kurzem habe ich das Malbuch gefunden, das in der Schultüte meines ersten Kindes steckte, unbenutzt, natürlich.
Wer packt auch ein Malbuch in eine Schultüte? Früher, also vor ein paar Jahren, wusste ich es nicht besser. Ich hätte das Ding bis oben mit Schokolade und Lego vollstopfen sollen und boom zack, fertig ist die Laube. Hinterher ist man immer schlauer, nicht wahr? Und eigentlich gehört in eine Schultüte ja vor allen Dingen der ganze Kram rein, den man so benötigt in der Schule. Aber, mindestens genauso witzig, die Schultüte selbst haben wir Eltern dann beim Kaffeetrinken gehalten.

Man benötigt aber nicht irgendeine Schultasche, nein, unter deutschen Eltern ist es weit verbreitet, sich auf die Suche nach der perfekten Schultasche zu begeben. Es ist ein echter Kult um den Ranzen, ein Kampf, mit dem ich im Jahr der Einschulung erstmals konfrontiert werde.
Wie so oft bei Angelegenheiten der interkulturellen Verständigungsproblematik konsultiere ich in einem solchen Fall den einen Deutschen ohne Migrationshintergrund, der meistens in der Nähe ist: meinen Ehemann. Meine Frage, wie immer pointiert, weil Kürze, Würze: »Was geht mit dieser Schulranzenobsession von euch?« Er guckt mich an wie ein westfälisches Brot und lacht.
»DAS frage ich mich auch.«
Mein Mann schwankt gern zwischen Über-Alman und Möchtegernmigrant und analysiert dann in bester Bildungsbürger-Manier seinen inneren Loriot bis zum Erbrechen. Man macht schon was mit als Migrantenmutti mit Kartoffelkindern und -mann. Schwieriges Leben, hömma.
Zurück zur Schulranzenquest. Als die beginnt, fühle ich mich wieder wie schwanger. Denn wie in der Sekunde, in der du erfährst, dass du schwanger bist, ist es auch vorbei mit dem Frieden und den Eierpfannkuchen, wenn dein Umfeld von der Einschulung deines Kindes erfährt. Alles wird kommentiert und angefasst. Einschulung, Schwangerschaft, same same but different.
»OB. WIR. DENN. SCHON. EINEN. RANZEN. HÄTTEN?«

Ich schwöre, über ein halbes Jahr vor der eigentlichen Einschulung beginnen am Wohle deines Kindes interessierte Krähen auf selbiges einzuhacken: »Hast du schon einen Tornister?«, »Freust du dich?«, »Dann startet der Ernst des Lebens!« So ziemlich jeder Mensch ohne Migrationshintergrund, den wir kennen, hat erst das Kind, dann uns nach dem Ranzen/Tornister gefragt. Vokabeln, die wir dem Kind daraufhin erklären mussten, weil wir es mit dem Thema zuvor in Ruhe gelassen hatten. Eine Schultasche also. Nein, hat es nicht, antwortet es dann maximal desinteressiert, während es mich hilflos anguckt wie jemand, der einfach nur flüchten möchte. You and me both, Schatz, aber das habe ich alles schon einmal durchgemacht und zwar 1991, auch wenn das ganz genau genommen natürlich keine Flucht war, sondern eine Umsiedlung. Aber noch mal Auffanglager, argh, weiß nicht, Schatzi, du bist etwas zu verwöhnt für prekäre Verhältnisse.

Lass mein Kind in Ruhe und red’ mit deinen eigenen Enkelkindern, wenn du welche hast, Monika. Sicherlich ist der Wunsch nach Smalltalk menschlich, aber es gab Zeiten, da reichte in Minden und Umgebung ein »Mmmmmh«, »Joah«, »Ne«, »Ach« und »Sag bloß«. Make Smalltalk ostwestfälisch again, bitte.

Wir hatten auch drei Monate vor der Einschulung noch keinen sogenannten Ranzen, was bei anderen Eltern mit Einschulkids zu Schnappatmung führte. Soweit ich mich erinnern kann, konnten wir uns auch partout nicht merken, wann die Einschulung genau stattfinden würde, bis wir zum allgemeinen ersten Elternabend gingen. Da wurden einem dann alle Infos geliefert. Auch den Migrantenmuttis und -vattis, die nicht seit Monaten mit Dünnschiss vor Aufregung rumliefen, weil Einschulung ist.
Excusez-moi, sein wird.

»Üben Sie mit dem Kind jetzt wirklich schon den Schulweg!«
Ok, das ergibt Sinn, wirklich.
»Und üben Sie, die Schnellhefter ein- und auszupacken. Machen Sie ein Spiel daraus! Sagen Sie dem Kind, jetzt den roten, dann den blauen!«
Tasche packen, ja, auch sinnvoll. Aber mit dem Kind üben, den roten Schnellhefter rauszuziehen? Als Spiel? Freu mich jetzt schon drauf, das vorzuschlagen. Denke, wir können sofort das gesamte Playmobil und den Beamer rausschmeißen, es wird seine Freizeit nie wieder anders verbringen wollen. Revolution im Spielzimmer!

Das sind so die Momente, in denen ich ohne Scheiß, wirklich, ganz im Ernst nach den Kameras suche, nach einem erfolglosen C-Promi, der gerne Ashton Kutcher wäre und rumspringt und »Punk’d« schreit. Kutcher ist sehr glücklich mit Mila Kunis verheiratet, die aus der Ukraine kommt. Deren Ehering hat 200 Dollar bei Etsy gekostet, und auch sonst können wir alle von dieser Migrantenmutti viel lernen.

Kinder gehen allein ins Klassenzimmer – wirklich

Beim Elternabend wurden aber auch kluge Dinge von der Lehrkraft in Richtung Muttis und die zwei Quotenväter gesagt. Zum Beispiel, dass die Kinder nach der Verabschiedung am Tor wirklich, ja wirklich, den Weg allein ins Klassenzimmer finden. Dann hat sie so heftig gezwinkert, dass ich mir kurz Sorgen gemacht habe. Zumindest hat sie versucht, den besorgten Eltern zu vermitteln, dass sie schon klarkommen werden, also die Kinder, bei den Eltern weiß man es nicht. Für mich eine Sorge weniger, die ich nie hatte. Das hat alles nichts damit zu tun, dass ich irgendein Bedürfnis hätte, mich als besonders cool darzustellen. Ihr vergesst, wirklich coole Leute haben das nicht nötig. Etwas mehr zu tun hat es mit einer Art Ist-mir-egal-Einstellung. Über die verfügt man einfach, oder sie stellt sich mit der Zeit ein. Die vermeintliche Coolness ist also ein Mix aus Erfahrung und Erschöpfung, auch nur einen einzigen weiteren Fick zu geben. Zumindest resultierte der Elternabend darin, »fucking Schultasche kaufen!!!« auf die Einkaufsliste mit den zigtausend anderen Dingen zu schreiben.
Was da noch so steht, fragt ihr, holde Kita- und Lange-aus-dem-Alter-raus-Eltern?

Nun, unter anderem »Tuschkasten«, aber bitte von Pelikan, haltet euch fest, weil die Farben dann intensiver sind. Bleistifte? Bitte die Stabilo EASYgraph; wenn man die nicht als Angebot im Non-Food-Discounter kauft, sind das 2 Euro pro Stift. Insgesamt, ganz grob gerechnet, mindestens 50 Euro, eher mehr, für die Einschulungserstausstattung. Also wirklich nur für den Kram IN dem Schulranzen. Bisschen krass find ich das schon. Ich bin ja nicht die Einzige, der das auffällt und während ich mich noch drüber lustig machen kann, dass ich 2 Euro für einen (!) Bleistift zahlen muss, können sich jedes Jahr weniger Eltern eine Schulausstattung leisten, schon gar keine fancy Einschulung.

Ganz im Ernst, dürfen Schulen so etwas? Markennamen bei den Pinseln, Bleistiften, Buntstiften und Pastellkreide angeben?

Ein Wunder, dass auf der Liste bei Turnschuhen nicht Gucci steht. Am Ende führt dieser Anspruch zu einem Blick nach links und rechts: Warum hat das Kind einen anderen Füller, eine andere Sorte Tuschkasten als ich, sind meine Farben wirklich intensiver? Und bekommt das Kind mit den weniger intensiven Farben eine schlechtere Note?
Bezahlen muss man nicht nur den Kram zum Schreiben, sondern auch die Bücher. Zack, wieder 20 Euro. Plus 50 Cent für den Lutscher, weil ich an solchen Tagen ein sentimentales Opfer bin, das als Kind nie spontan was Süßes an der Kasse gekriegt hat.
In der Buchhandlung werde ich direkt angeschrien: »UMSCHLJJEEEGE?« Ich bin kurz davor, zurückzuschreien, dass sie sich glücklich schätzen soll, dass ich den Akzent der guten Frau dank meines Migrationshintergrundes überhaupt verstehe, aber antworte stattdessen gewohnt höflich »Für die Bücher Umschläge?« Prollig bin ich ja meist nur, wenn ich schreibe, in echt bin ich voll handzahm und lieb. Aber hauptsächlich, weil ich Menschen, die in der Pflege, in der Gastro, im Tourismus, im Einzelhandel und im ÖPNV arbeiten, extrem hart respektiere.

Die Kassiererin guckt mich nun an, als wäre ich inkompetent, woraufhin mir nur einfällt zu sagen: »Wir haben Einschulung, ich mache das gerade alles zum ersten Mal.« Sie versteht augenblicklich und schreibt in beeindruckend schöner Handschrift »mit Umschlägen« auf meinen Bestellzettel. Ich erkenne diese Post-Ost-Handschrift, schließlich ist es die gleiche, die meine Entschuldigungen schrieb. Nach all diesen Besorgungen war der wichtigste Akt immer noch nicht vollzogen. Das glückselig spielende Kind will natürlich nicht vor den Laptop und einen Ranzen aussuchen. Es will weiterhin spielen, und zwar eher nicht mit bunten Schnellheftern, unfassbar.

Wir müssen das jetzt machen, sonst geht die Welt unter oder das Dorf ruft das Jugendamt, weil du immer noch keinen Ranzen hast!

schreie ich. »DANN BLEIB ICH HALT IM KINDERGARTEN!«, schreit das Kind zurück. »Sag einfach eine Farbe!«, schreie ich. »Grün!«, schreit das Kind. Das Problem an großen Häusern ist, dass man eigentlich permanent schreien muss. Deshalb hatten die früher immer so ein Interkomding. Grün. Nä, komm, grün ist nicht immer die schlechteste Wahl, aber die grünen Ranzen sind alle ein bisschen ugly. Ich gehe also mit dem Laptop zum Kind. Berg, Prophet, mmhja.
Das Kind guckt. »Das da mit dem Raumschiff.« Geil, fertig. Ach guck, noch den Sportbeutel, und so einen Regenschutz und diese Dingerchen da.

Warte. 300 Euro?????? Gut, dass anscheinend Großeltern mehr als scharf darauf sind, diese Tornister zu bezahlen, aber kann ich dem Kind nicht die gleiche Schultasche gebraucht kaufen und Mutti kriegt eine neue Tasche für die restlichen 250 Euro? Wo kommen wir denn da hin? Das sowjetische Kind in mir hat nicht nur Heimat gefunden, sondern ist auch endlich im kapitalistischen Bildungsbürgertum angekommen. Immerhin, der Ranzen ist anscheinend aus Plastikmüll, ergonomisch, mitwachsend, ultra leicht, blablablablabla. Ich weiß nicht mal mehr, wie mein Ranzen in der Grundschule aussah. Ich meine es ernst. Ich habe keine Ahnung.

Unter Umständen hatten meine Eltern andere Sorgen als die Beschaffung eines Schulranzens aus Ozeanmüll. Was ich allerdings noch weiß, ist, wie meine Schultüte ausgesehen hat, denn, TROMMELWIRBEL, auf diesen Moment warte ich, seitdem ich im Internet schreibe: ICH HABE SIE SELBER GEBASTELT. Und zwar im Kindergarten. Mit den Erzieher:innen zusammen. Ohne elterliche Unterstützung an einem gemeinsamen Bastelnachmittag. Und ohne Anleitung aus dem Internet. Aus normaler Pappe mit normalen, selbst gebastelten Schmetterlingen.

Am nächsten Tag bin ich mit dem Kind im Ein-Euro-Laden, um Deko für eine Party und geile Hüte für einfach so zu kaufen. In einer Ecke stehen Schultüten. »Ugh, die müssen wir auch noch besorgen«, murmle ich. Das Kind strackst hin, nimmt die Grüne mit dem T-Rex und sagt, die soll es sein. Liebe es, das pragmatische Kind. Ich zögere. Kann ich eine Schultüte für einen Euro kaufen? Geht das? Verliert dann eine Öko-Elfe in Berlin-Mitte ihre Flügel? Wir beschließen, noch zu warten, schließlich sind es ja noch drei Monate bis zur Einschulung, Heidewitzka.

Außerdem bin ich jetzt angefixt durch den teuren Ranzen. Sollte ich meinem armen Kind nicht doch auch eine dieser fancy Schultüten gönnen? Zum Wohle des Kindes, versteht sich, nicht um Material für die WhatsApp-Story oder Instagram zu haben, neeeeiiiiiin, niiiiiiiiemals. Zu Hause fange ich an zu recherchieren. Äh, talk about Klassismus, Baby. Diese Bastelsets, von denen sie immer auf Instagram schwärmen, kosten zwischen 40 und 60 Euro. Ich dachte, ich fall vom Stuhl. Und ja, Bastelset impliziert, dass ihr euch als Eltern – seien wir ehrlich, dann wiederum meistens die Mütter – hinsetzt und die hübsche Tüte basteln müsst. Ohne Kind, wetten? Wie beim Adventskalender. Ja, Maria Theresia, ich bin mir sicher, dass dein Kind sehr, sehr gern zwei Stunden lang eine Schultüte mit dir bastelt. Voll gut für dich.

Die billigsten Schultüten, die ich finde, kosten ca. 25 Euro und können danach als Kissen oder Beutel verwendet werden. Gefüllt werden müssen sie auch alle noch. Ich werde wohl allein aus Trotz gegenüber dem System die Tüte aus dem Euro-Laden nehmen, natürlich auch, weil sie es ist, die meinem Kind gefällt. Weil who the fuck cares, ob die Schultüten eurer Kinder instaperfect sind?

Sind Schultüten nicht einfach sehr, sehr teure Piñatas?

Also nach einem Tag ohnehin Müll? Wenn ihr euch das nicht leisten könnt oder wollt, dann lasst es. Ihr habt meinen Segen. Wenn es euch wiederum glücklich macht, bitte, dann viel Spaß dabei. Am Ende geht es mir darum, dass das Schaulaufen am Tag der Einschulung von wem genau als Schaulaufen wahrgenommen wird? Von uns Eltern oder von den Kindern untereinander? Beginnt Kevinismus schon bei der gekauften Star-Wars-Schultüte von Eugen oder kriegt die offensichtlich perfekt selbstgebastelte Rakete inklusive Silberfolie von Charlotte einen besonderen Fleißsticker und lässt das süße Mädchen auf der Sympathieskala steigen?

PS: Insgesamt kostet so ein Schulanfang also locker 500 Euro, wenn man alles neu und schick kauft. Das beinhaltet nicht mal eine eventuelle Party oder ein neues Outfit. Heftig, oder? Und das ohne Gucci! die durfte nämlich nicht mit rein in die allererste Unterrichtsstunde. Was mit rein durfte, war natürlich der Ranzen. Das Prachtexemplar. Der heilige Gral und gleichzeitig der Schlüssel zur Büchse der Pandora. Wenn wir Eltern durch sind mit der Recherche für Kinderwagen, Babytragen, Beistellbettchen, die ersten Paar Schuhe und Kindersitze, dann bleibt nur noch der Schulranzen und die Kinder können endlich »aus dem Gröbsten raus sein«.

In nicht-migrantischen Kreisen wird Einschulung mehr als ein Zustand denn als ein Ereignis gehandelt. »Wir haben dieses Jahr Einschulung« ist dann das neue »Wir sind schwanger«. Zunächst wird einem einige Monate vor dem eigentlichen
Event vom Amt und von der zukünftigen Schule Bescheid gegeben, dass die Einschulung ansteht. Und wenn man das vermaledeite Internet mal beiseitelässt, würde man mit den vom Amt geschickten Listen genug zu tun haben und auch ausreichend vorbereitet sein. Allem voran, das steht da schwarz auf weiß – ist aber den meisten klar, ohne dass sie jemand darauf aufmerksam machen müsste –, braucht man eine Schultasche.

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