MUMMY MAG zu klein Junge geht

„Das kannst du schon.“ vs. „Dafür bist du noch zu klein.“

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Sonntagmorgen auf dem Marktplatz einer Kleinstadt nahe Berlin. Es ist schon hell, es ist frisch und menschenleer. Ich gehe mit meinem Hund spazieren und genieße die Ruhe. Kommt mir ein Kind entgegen. Ein Junge, schätzungsweise drei oder vier Jahre alt. Ganz allein, keiner weit und breit. Frau Familienhelferin fühlt sich natürlich sogleich verantwortlich. Alte Berufskrankheit, oder wie mein Sohn immer augenrollend sagt: „Mama, du musst nicht jedes Kind anquatschen.“

Ich also hin da, quatsche den Jungen an: „Hi, wie gehts dir? Alles klar?“

Der Junge guckt mich mit großen Augen an: „Ich geh Brötchen holen.“ Grinst. In einer Hand hält er ein paar Münzen ganz fest, in der anderen einen Beutel.

Ich so: „Aha, kannst du das schon alleine? Wie alt bist du?“ Er so: „Ja, Mama hat mir Geld gegeben. Ich bin schon drei.“ Stolz wie Bolle stapft der kleine Junge weiter, quer über den Markt, rüber zum Bäcker.

Wann ist das richtige Alter?

Okay, denke ich, der geht Brötchen holen. Mit drei. Warum auch nicht? Offensichtlich wissen seine Eltern Bescheid und trauen ihm das zu. Er weiß auf jeden Fall, was er zu tun hat. Das macht er nicht zum ersten Mal. Meine Jungs hätte ich mit drei Jahren noch nicht allein einkaufen schicken können. Jedenfalls nicht bei uns an der befahrenen Straße in der großen Stadt. Dafür haben sie schon total früh in der Küche beim Gemüseschnippeln geholfen. Mit echten, scharfen Messern.

Welches ist das richtige Alter, um seinem Kind dieses und jenes zuzutrauen? Wer entscheidet eigentlich, wann Kinder was können dürfen/müssen? Woran können Eltern sich orientieren? Der Grad zwischen Förderung und Überforderung scheint ziemlich schmal zu sein, sodass viele Eltern lieber etwas zu vorsichtig sind, als ihr Kind womöglich einer Gefahr auszusetzen.

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Bild von Daniela Dimitrova auf Pixabay

Dabei ist es für die kindliche Entwicklung enorm wichtig, dass Kindern etwas zugetraut wird. Ihr Selbstwertgefühl wächst, wenn sie Erfolgserlebnisse haben. Und es ist eine große Freude, etwas Neues gelernt zu haben.

Zum Lernen gehören das Ausprobieren, das Wiederholen, das Scheitern. Gerade das Scheitern ist für Lernprozesse enorm wichtig aber eben auch echt blöde. Aus eigener Erfahrung wissen wir alle, das ist keine schöne Sache. Wut, Scham, Frust gehören genauso dazu wie Verletzungen, Schmerzen und Wunden. Niemand kann laufen lernen, ohne hinzufallen.

Kinder sind Kinder

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, daher sollten auch nicht unsere Maßstäbe für sie gelten. Sie können bestimmte Sachen noch gar nicht, weil sie körperlich, seelisch und kognitiv noch nicht dazu in der Lage sind. Hier einige Beispiele:

  • Sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen (Perspektivwechsel, Gefühle erkennen und benennen), gelingt etwa im Vorschulalter.
  • Die Wahrheit über einen Vorfall in jüngster Vergangenheit zu berichten (Zeitgefühl, Kausalzusammenhänge erkennen, zwischen Fantasie und Realität unterscheiden), klappt auch erst im Vorschulalter.
  • Sich selbstständig Kleidung auszuwählen und anzuziehen (motorische Fertigkeiten, Entscheidungen treffen, sich selbst als Person wahrnehmen), gelingt ungefähr mit drei Jahren.
  • Sonntagmorgens Brötchen zu kaufen (Orientierungssinn, Merkfähigkeit, Grundverständnis von Mengen und Zahlen), klappt im Vorschulalter, hängt aber auch von Vorerfahrung und Persönlichkeit ab. Manche Kinder sind mutig und kommunikativ, andere sind eher schüchtern und vorsichtig.
  • Allein sein Zimmer aufzuräumen (komplexe Handlungen, kategorisieren, sich strukturieren), ist echt schwer, braucht lange Anleitung und Vorbilder und klappt etwa ab der 3./4. Klasse. Das gilt übrigens auch für das eigenverantwortliche Ordnunghalten im Schulranzen.
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Bild von pasja1000 auf Pixabay
  • Rad zu fahren im Straßenverkehr (komplexe motorische Fähigkeiten, Gefahren einschätzen, Verkehrsregeln kennen und beherrschen, schnelle Auffassungsgabe, geringe Ablenkbarkeit, Impulskontrolle), braucht viel Übung unter Anleitung, gelingt ab der 3./4. Klasse in bekannter, eher verkehrsarmer Umgebung.
  • Allein zu Hause zu bleiben (Zeitgefühl, sich selbstständig beschäftigen und versorgen können, also aufs Klo gehen, etwas zu trinken/essen holen, Gefahren einschätzen, Hilfe holen können, telefonieren können, absprachefähig sein), hängt auch vom Training, von der Persönlichkeit des Kindes und von den Umständen ab, wie z. B. eine vertrauensvolle Nachbarin vor Ort, Dauer des Alleinseins, Erreichbarkeit der Eltern usw. Durchschnittlich klappt das ab dem Grundschulalter stundenweise, bei Jugendlichen auch schon mal tageweise.
  • Mit öffentlichen Verkehrsmitteln in eine andere Stadt zu fahren (Orientierungssinn, Selbstsicherheit, Vertrauen, Verständnis komplexer Abläufe, Merkfähigkeit, Lesen können) klappt ab etwa zehn Jahren, aber es kommt darauf an, wie trainiert das Verhalten ist. Ich kenne Kinder, die sind mit sechs Jahren schon allein durch die Gegend gefahren, weil sie in der Nachbarstadt die Oma besuchen wollten. Andere Kinder haben keinerlei Erfahrung mit Zügen, Bussen und Straßenbahnen, die brauchen dann mit 14 Jahren noch Anleitung.

Entwicklungsschritte

Kindliche Entwicklung orientiert sich nicht am Alter. Besser gesagt, ist das Alter nur ein grober Richtwert, plus/minus zwei Jahre. Entwicklung findet auch nicht linear statt. Vielmehr könnte man sich Entwicklung wie eine Natursteintreppe vorstellen, eine solche, die von Riesen in einen Fels gehauen wurde. Einige Stufen sind wahnsinnig groß und andere winzig klein, mal geht es steiler und dann wieder ganz flach.

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Bild von VisionOfVictor auf Pixabay

Zwischen den Entwicklungsschritten gibt es Entwicklungssprünge und auch Entwicklungspausen. Lernen und Reifen sind sehr komplexe Prozesse, die von vielen Faktoren von außen und innen abhängen. Eltern und Pädagogen können diese unterstützen und begleiten. Niemals aber können sie die Entwicklung ihrer Kinder aufhalten oder komplett steuern. Wer das im Sinn hat, sollte vielleicht lieber Roboter programmieren.

Klar geregelt

Einige Gesetzte orientieren sich am Lebensalter. Kinder unter sieben Jahren sind beispielsweise nicht geschäftsfähig, Kinder unter 14 Jahren sind nicht strafmündig, sie können also nicht nach dem Strafrecht verurteilt werden. Auch für die Schulpflicht gibt es eine Altersorientierung, die allerdings etwas variabel ist. Das Jugendschutzgesetz bezieht sich ebenfalls auf das Alter der Kinder und Jugendlichen. In der Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kann man das nachlesen: „Jugendschutz – verständlich erklärt“

Verantwortung und Vertrauen

Alles, was nun nicht durch ein Gesetz klar vorgegeben ist, liegt in der Verantwortung der Eltern bzw. der Personensorgeberechtigten. Wir Eltern sind für den Schutz, aber auch für die Förderung unserer Kinder zuständig. Das ist auch gut, denn wir Eltern kennen unsere Kinder am besten und können einschätzen, was wir ihnen zutrauen können.

Wir können die Risiken und Nebenwirkungen für unsere Kinder im Blick behalten und ihnen die nötige Sicherheit bieten, damit sie lernen und sich entwickeln können: ausprobieren, scheitern, wiederholen … Wir sind die Vorbilder und sicheren Bindungspersonen, an denen sich unsere Kinder orientieren.

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Bild von ExplorerBob auf Pixabay

Lasst uns Vertrauen in unsere Kinder haben! Sie zeigen uns schon, ob sie so weit sind für dies oder das. Unsere Kinder trauen sich Neues zu, wenn wir es ihnen zutrauen. Das hängt zusammen und bedingt sich gegenseitig.

Im Übrigen ist auch das Erziehen von Kindern ein Lernprozess und nicht vom Try-and-error-Prinzip ausgenommen. Elternsein heißt nicht, dass man alles richtig machen muss. Geht gar nicht. Man macht Fehler, man entwickelt sich weiter und wird mit der Zeit und mit der Erfahrung immer sicherer. Eltern von mehreren Kindern werden bestätigen, dass es mit jedem weiteren Kind einfacher wird, aber dann doch auch wieder jedes Mal irgendwie neu ist.

Erfahrung, Beziehung, Augenmaß

Wenn ich in Absprache mit meinem Mann einschätze, dass unsere Kinder mit 12 und 15 Jahren ein Wochenende allein zu Hause bleiben können, dann ist das okay, solange unsere Einschätzung nicht grob fahrlässig getroffen wurde. Mit Augenmaß, im Gespräch mit unseren Kindern und aufgrund der bisherigen Erfahrung mit ihnen, können wir einschätzen, was wir ihnen zutrauen können.

Das ist allerdings keine Garantie dafür, dass nicht doch irgendetwas schiefgeht. Natürlich fließt in unsere Überlegungen immer auch das Worst-case-Szenario mit ein: eine möglichst realistische Betrachtung, dessen was schlimmstenfalls passieren könnte. Das besprechen wir mit den Jungs und überlegen einen Plan B. Immer gilt: Ihr könnt uns anrufen. Ihr könnt euren Onkel fragen, der glücklicherweise unser Nachbar ist. Ihr dürft eure Freiräume nutzen.

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Bild von Sarah Martin auf Pixabay

Das Haus steht noch

Was soll ich sagen? Das sturmfreie Wochenende kam bei allen Beteiligten gut an. Die Jungs haben ein PS4-Spiel durchgezockt und sich Spagetti gekocht, sie haben nichts kaputt gemacht und sich nicht verletzt. Die Bar blieb unberührt, und es gab keine größeren Konflikte. Das Haus steht noch.

Der Große will im Sommer mit Freunden allein nach Schweden reisen. Wir trauen ihm das zu. Er ist so weit. Klar mache ich mir auch Sorgen (der Vater nicht), das gehört wohl dazu. Aber meine mütterlichen Bedenken sollen seine Entwicklung nicht unnötig behindern.

Der Große wird bald 16 Jahre alt, er will eine Party feiern. Er will Bier kaufen, das darf er dann laut Jugendschutz. Er wünscht sich, dass wir Eltern nicht zuhause sind. Daran habe ich etwas auszusetzen. Ja, er darf feiern, ja, sie dürfen dann auch Alkohol trinken. Aber ich habe ein Auge darauf und mische mich ein, sollte die Sache aus dem Ruder laufen. Er findet das doof, ich nenne es „betreutes Trinken“. Alles andere wäre wohl grob fahrlässig.

Titelbild von ACasualPenguin auf Pixabay


Christine ist Mutter von zwei Teenager-Söhnen und Diplom-Pädagogin. Sie arbeitet als Familienhelferin im Raum Braunschweig/Salzgitter und begleitet benachteiligte Kinder, unterstützt herausfordernde Jugendliche und sucht neue Perspektiven für abgehängte Familien. Ihre Leidenschaft gilt dem Gärtnern, ihrem Hund Nero und noch vielem mehr.

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