MUMMY MAG Herzgeschichte Himmel

Herzgeschichte – Teil 1

MUMMY MAG Herzgeschichte Himmel

Die erste und vielleicht wichtigste Lektion, die ich als Mutter lernen musste, war: „Du kannst dein Kind nicht vor allem beschützen.“ Das Leben hält die schönen Momente genauso wie die schrecklichen bereit, und manchmal liegen beide sehr dicht beieinander.

Als ich mit unserem ersten Kind schwanger war, habe ich mich sehr auf das Baby gefreut. Es war ein absolutes Wunschkind. Mein Mann und ich waren so bereit, eine Familie zu gründen, wie man vor dem ersten Kind nur bereit sein kann. Wir waren glücklich, naiv und optimistisch.

Da stimmt etwas nicht

Im zweiten großen Ultraschall-Screening im 6. Monat der Schwangerschaft gab es Auffälligkeiten am Herzen des Ungeborenen. „Da stimmt etwas nicht, aber es wäre besser, wenn Sie sich bei einem Spezialisten eine zweite Meinung einholen.“ Mit einem Schlag wich die ungetrübte Freude der Sorge um mein Baby. Die Angst um das Leben meines Kindes wurde zu meinem ständigen stillen Begleiter.

Der Spezialist bestätigte einen angeborenen Herzfehler. Die Aortenklappe war verdickt und verhinderte den ausreichenden Fluss des sauerstoffgesättigten Blutes vom Herzen in den Körper. Kacke! Leider wusste ich relativ genau, was auf ihn und auf uns zukommen würde, denn mein kleiner Bruder wurde ebenfalls mit einem Herzfehler geboren. Als große Schwester habe ich alle seine Untersuchungen, Eingriffe und Operationen miterlebt, und dies hatte mich geprägt, lange bevor ich selbst Mutter wurde – wie stark, das sollte ich im Laufe der Jahre noch erfahren.

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Foto von Christine Foetzki, MHH

Um die bestmögliche medizinische Versorgung für unser Baby zu bekommen, entschieden wir uns für eine Geburt in der Nähe der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Als wir die Entbindungsstation einige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin besichtigt und uns dort angemeldet hatten, sind wir auch zur Kinderklinik der MHH gefahren und durften uns sogar die Intensivstation angucken. Ich kann mich an einen Leitgedanken erinnern, der mich damals durch die Wochen bis zur Geburt getragen hat: Wenn es schon Probleme mit der Gesundheit des Babys geben musste, dann wenigstens ein Herzfehler, damit kenne ich mich wenigstens aus.

Doofe Erfahrung, so eine Geburt

Drei Wochen vor dem Termin platzte mitten in der Nacht die Fruchtblase. Knapp eine Stunde später waren wir mit geliehenem Auto über die leere Autobahn in die Klinik gedüst. Die Geburt hat einen ganzen Tag gedauert, Wehen wollten sich trotz Einleitung erst nicht einstellen. Doofe Erfahrung, so eine Geburt! Das sagt vorher auch niemand so deutlich! Eine schlaflose Nacht und viele Stunden mit schmerzhaften Wehen später war ich auch einer Periduralanästhesie (PDA) gegenüber nicht mehr abgeneigt. Im vorher gegangenen Anästhesisten-Aufklärungsgespräch hatte ich die Option einer Nadel in meinem Rücken noch kategorisch ausgeschlossen.

Mit PDA ging es deutlich besser voran. Wehen habe ich nur noch am Wehenschreiber bemerkt, und in der letzten Phase der Geburt habe ich brav nach Anweisung geatmet und gepresst. Meine Intuition war betäubt, die Schmerzen allerdings auch. Die Hebamme meinte nach der Entbindung, sie hätte gemerkt, dass ich das Baby nicht hergeben wollte. Mein Unterbewusstsein war nicht bereit loszulassen, wusste ich doch um den Herzfehler und alles, was der mit sich bringen würde. Auch mein Bewusstsein war nicht bereit loszulassen, aber ich hatte keine Wahl.

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Foto von Stefan Foetzki, 2004

Nach etwa einer halben Stunde mit meinem Sohn auf dem Bauch – die erste Begutachtung, ein paar Fotos, Glücksgefühle, spontane Verliebtheit, Erleichterung und Erschöpfung – wurde der Kleine im Nebenraum für den Krankenwagentransport vorbereitet. Mein Mann ist mit ihm zusammen in die MHH gefahren, während ich wohl mit Nachgeburt und Zusammenflicken beschäftigt gewesen sein musste und dann auf mein Zimmer gebracht wurde. Ich habe keine genaue Erinnerung mehr an diese Stunden, nachdem er weg war.

Mutterseelenallein

Ich sollte etwas essen und mich ausschlafen. Zu nichts von beidem war in ich der Lage. Das Zimmer teilte ich mir mit einer Mutter, die nach Entbindung ihres vierten Kindes wegen eines Streptokokkeninfekts noch eine Nacht bleiben musste. Nach den anderen Geburten war sie sofort wieder nach Hause gekommen und noch nie auch nur eine Nacht von ihren anderen Kindern getrennt gewesen, erzählte sie mir unter Tränen. Dann telefonierte sie weinend mit ihren drei älteren Kindern.

Es war für sie als Mutter kaum zu ertragen, von ihren Kindern getrennt zu sein, auch nur für eine Nacht. Für mich war das auch kaum zu ertragen, also diese Mutter! War doch mein neugeborenes Baby wirklich von mir getrennt, allein in irgendeinem Wärmebettchen auf der Intensivstation, in völlig fremder Umgebung voller Schläuche und Kabel. Während ihr Baby in ihren Armen lag und die anderen Kinder immerhin bereits in einem Alter waren, in dem sie telefonieren konnten, war meines unerreichbar weit weg und mutterseelenallein. Mein Mann war zwar bei ihm, allerdings auch nicht über Nacht.

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Foto von Stefan Foetzki, Intensivstation MHH, 2004

So war es nicht verwunderlich, dass ich mich bereits am nächsten Morgen auf eigenes Risiko für ein paar Stunden entlassen habe, um mit einem Taxi zu meinem Baby zu fahren. Niemand konnte mich davon abhalten, auch kein ärztlicher Rat. Weil seine Werte stabil waren, konnte er auf die normale Kinderstation verlegt werden, und ich durfte ihn dort stillen, wickeln und im Arm halten. Tagelang habe ich nichts anderes getan. Nur zum Schlafen bin ich ein paar Stunden zurück in die Entbindungsklinik gefahren.

Krankenhaus statt Wochenbett

Leider durfte ich als Wöchnerin nicht mit meinem Kind zusammen auf der Station übernachten, wie die anderen Mütter und Väter, aber ich konnte nach einer Woche ein Elternapartment neben der MHH beziehen. Verpflegung gab es in der Kantine im Haupttrakt des großen Krankenhaus-Komplexes. Während jeder Frau nach einer Entbindung Ruhe und Erholung im Wochenbett dringend empfohlen wird, aus gutem Grund, hat sich um mich niemand wirklich gekümmert. Außer meinem Mann, er hat mir Süßigkeiten und Klamotten gebracht, und wir haben zusammen bei unserem Baby im Zimmer gesessen.

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Foto von Christine Foetzki, Zimmer Kinderstation MHH

Meine Hebamme aus Braunschweig kam jedoch nicht so weit gefahren, um mich zu betreuen. Vor Ort hatte ich keine. Ich wusste nicht, dass ich einen Anspruch hätte geltend machen können. Somit wusste ich auch nicht, dass zu viel Herumlaufen, zu wenige Pausen und zu wenig Essen nicht so gut war. Ich wusste auch nicht, dass Stillen und Abpumpen gleichzeitig keine gute Idee war. Von den Schwestern in der Kinderklinik wurde mir zum Stillen geraten, inklusive vorher und nachher das Baby wiegen zur genauen Dokumentation der Milchmenge.

In der Entbindungsklinik stellte man mir eine monströse Abpumpmaschine neben das Bett. Ich wurde aufgefordert zu pumpen, um den Milchfluss anzuregen und für das Baby einen schönen Milchvorrat anzulegen, damit es im Krankenhaus immer ausreichend Muttermilch bekommen könne, falls ich mal nicht zugegen sei – wo sollte ich denn bitte sein, Sightseeing durch Hannover?. Also habe ich eine schmerzhafte Brustentzündung mit hohem Fieber bekommen, jedoch erst später, denn solange mein Baby im Krankenhaus war, funktionierte ich einfach wie eine Maschine und sah dabei aus wie ein Zombie.

Kein Routineeingriff

An Tag 11 nach der Geburt sollte die verdickte Herzklappe mit einem kleinen Ballon aufgesprengt (dilatiert) werden. Das wird mit einem Katheter getan, was bei größeren Kindern und Erwachsenen ein nahezu unbedenklicher Routineeingriff ist. Nicht jedoch bei einem Neugeborenen, dessen Adern und Herzchen noch so winzig klein sind. Die möglichen Risiken von Narkose und Eingriff wurden uns als Eltern mitgeteilt, und es fühlte sich ein bisschen so an, als würde man das Todesurteil für sein Kind unterschreiben, wenn man sein Einverständnis gibt.

Mein Mann wollte vorher für einen Tag nach Hause fahren, um dort mit Freunden die Geburt seines ersten Sohnes zu feiern, das sog. Babypinkeln ist hier in der Gegend eine Tradition, und dann am Tag vor der OP zurückkommen. Ich war natürlich im Krankenhaus geblieben und habe dort am Abend erfahren, dass die OP vorverlegt wurden auf den nächsten Morgen 8 Uhr. Das war mein persönlicher Super-GAU.

Ich konnte meinen Mann nicht erreichen, und die Vorstellung, das Baby allein zum OP zu bringen und allein vor verschlossener Tür stundenlang zu warten, war für mich der blanke Horror. Glücklicherweise habe ich meinen Mann in der Nacht doch noch erreicht, und er kam rechtzeitig ganz früh morgens zum Krankenhaus.

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Foto von Christine Foetzki

Die Stunden während der OP habe ich wie in einer Wattewolke verbracht. Konkrete Erinnerungen, wie wir die Zeit verbracht haben, gibt es keine mehr. Aber die Gefühle, die ich hatte, die sind tief in mein Gedächtnis eingebrannt: vor allem die Angst, dass etwas schiefgehen und ich nichts dagegen unternehmen könnte.

Das Leben unseres Kindes mussten wir im wahrsten Wortsinn in die Hände der Ärzte und Pflegekräfte legen und Menschen vertrauen, die wir gar nicht kannten. Wir hatten keinen Einfluss, keine Kontrolle. Es blieb uns nichts weiter, als darauf zu hoffen, dass alles gut werden würde. Irgendwann kam der erlösende Anruf: „Die OP ist erfolgreich verlaufen, ihr Kind ist jetzt auf der Intensivstation und kann in etwa einer Stunde besucht werden.“

Endlich nach Hause

Alle Anspannung wich großer Erleichterung, Dankbarkeit und unbeschreiblicher Freude. Die unmittelbare Lebensgefahr für unser Baby war erst einmal gebannt. Auf der Intensivstation sah er zwar ziemlich fertig aus, ganz aufgedunsen von den Medikamenten, aber er war stabil. Er wurde dauernd sediert, denn er sollte nicht schreien oder sich sonst aufregen, damit das kleine Herz sich erstmal erholen konnte.

Foto von Stefan Foetzki, 2004

Leider gab es dann doch noch eine Komplikation, es bestand der dringende Verdacht einer Thrombose in seinem Bein. Damit diese sich nicht löste und durch den Körper womöglich ins Herz oder Gehirn wanderte, musste er blutverdünnende Medikamente bekommen, in seinem Fall Heparin intramuskulär. Das bedeutete, dass er jeden Tag morgens und abends eine Spritze in den Oberschenkel bekam, insgesamt drei Monate lang. Mein Mann verabreichte diese Spritzen, ich konnte nicht einmal hingucken. Doch so kamen wir etwa einen Monat nach der Entbindung endlich als kleine Familie nach Hause.

Fortsetzung folgt…

Christine ist Mutter von zwei Teenager-Söhnen und Diplom-Pädagogin. Sie arbeitet als Familienhelferin im Raum Braunschweig/Salzgitter und begleitet benachteiligte Kinder, unterstützt herausfordernde Jugendliche und sucht neue Perspektiven für abgehängte Familien. Ihre Leidenschaft gilt dem Gärtnern, ihrem Hund Nero und noch vielem mehr.

2 Comments

  • Luise

    Liebe Christine, danke für deinen Artikel.

    Endlich mal ein Bericht, der meiner ersten Geburtserfahrung und meinem ersten Wochenbett so ähnelt.

    Danke, dass du deine Erfahrung teilst!

  • bianca

    Ich musste aufhören zu lesen…mein viertes Kind musste aufgrund unreiner, entzündeten Lungen sofort nach dem KS in eine andere Stadt auf die Intensivstation verlegt werden… Freitag ist das ein Jahr her und ich habe sehr mit der Erinnerung zu kämpfen…das Baby nach der Geburt nicht bei sich zu haben, hat mein Herz gebrochen. Ich kann so sehr mit Dir fühlen und hoffe das es Deinem Sohn heute gut geht ❤ Meine Tochter wurde vor 2 Jahren in der mhh Cochlear implantiert und diese Angst vor Kompilationen war ebenso unbeschreiblich gross und schlimm…

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