Systemsprenger: Was Kinder brauchen
Im Kinoprogramm diesen Winters läuft der Film „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt. Ab heute ist er auch auf Netflix zu sehen. Dieses hochgelobte Debüt ist bereits auf mehreren Filmfestivals ausgezeichnet worden – unter anderem mit dem Silbernen Bären. Wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte dies unbedingt nachholen. Insbesondere Eltern kann ich ihn nur empfehlen. Dieser Film ist großartig, gewaltig, emotional und absolut schrecklich.
Er handelt von einem traumatisierten neunjährigen Mädchen, das aus einer Pflegefamilie und mehreren Wohngruppen rausgeflogen ist und zwischendurch immer wieder in die Psychiatrie oder in eine Inobhutnahmestelle des Jugendamts kommt. Dabei will Benni nur bei ihrer Mutter leben, die sich aber nicht um sie kümmern kann und will. Sie versteht nicht, wieso ihre jüngeren Geschwister zuhause bleiben können, sie aber nicht. Sie reagiert darauf sehr wütend, rastet immer wieder richtig krass aus und verletzt sich und andere teils schwer. Das Hilfesystem, das sie eigentlich beschützen und aufnehmen soll, muss sich selbst und die anderen Kinder gegen diese pure Aggressivität schützen. Benni sucht verzweifelt nach Liebe, Verlässlichkeit und Sicherheit. Doch niemand kann ihr diese Beziehung bieten und ihr wirklich helfen.
Dieser Film ist keine Dokumentation, aber der Autorin und Regisseurin Nora Fingscheidt ist es nach langer und intensiver Recherche wirklich gut gelungen, dieses komplexe und schreckliche Thema sehr realistisch und ganz dicht dran an den Figuren zu zeigen.
Denn es gibt sie wirklich …
Es gibt sie wirklich, diese verzweifelten, überforderten und schwachen Eltern, die der Verantwortung, ein Kind zu erziehen, nicht gewachsen sind und die keine Unterstützung haben, sodass sich ihr eigenes Schicksal in der nächsten Generation wiederholt. Denn sehr oft haben sie selbst Schreckliches in ihrer Kindheit erlebt und niemand hat ihnen je gezeigt bzw. vorgelebt, wie es geht, sich gut um seine Kinder zu kümmern. Oder es gibt diejenigen Eltern, die so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder gar nicht erkennen können. Oder jene Eltern, die nicht in der Lage sind, eine Beziehung zuzulassen und aufzubauen – auch nicht zu ihren Kindern.
Es gibt sie wirklich, diese zerrissenen und verlorenen Seelen von missbrauchten und vernachlässigten Kindern. Sie reagieren auf ihr Schicksal mit einer unbändigen Energie, einem unerschöpflichen Überlebenswillen und ganz starken Emotionen – und sie kommen in ein System der staatlichen Fürsorge, das ihnen nicht geben kann, was sie wirklich brauchen: echte bedingungslose Zuwendung.
Und es gibt sie wirklich, diese engagierten Pädagog*innen, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Erzieher*innen und Therapeut*innen. Sie setzen sich für die Kinder ein, die überall stören und rausfliegen, die gewalttätig sind und gefährlich. Aber letztlich sind auch sie überfordert und hilflos mit diesen so genannten Systemsprengern. Der Begriff ist total irreführend, denn tatsächlich sprengen diese Kinder nicht wirklich die bestehenden Systeme der Jugendhilfe, sondern sie scheitern vielmehr an ihnen. Sie können die bestehenden Regeln und Grenzen nicht einhalten und die professionelle Distanz der Betreuenden nicht aushalten. Sie suchen authentische Beziehungen und wollen nicht nur „eine Nummer“, „ein Fall“ oder „ein Klient“ sein. Die Systemsprenger scheitern am System, immer und immer wieder, und zwar solange, bis das Scheitern zur einzigen Konstante in ihrem Leben wird.
Kinder brauchen Halt, Verlässlichkeit und Sicherheit
Alle Kinder brauchen Halt, Verlässlichkeit und Sicherheit. Bei solchen Kindern, die traumatische Gewalterfahrungen oder frühkindliche Vernachlässigung erleben mussten, gilt dies sogar in ganz besonderem Maße. Sie sind oft in ihrer Entwicklung gehemmt, weil ihre kleinen Kinderseelen alle Energie darauf verwenden müssen, ihre Traumata zu überleben, anstatt den nächsten altersangemessenen Entwicklungsschritt zu bewältigen.
Das hat zwangsläufig zur Folge, dass sie in Kindergarten, Schule, Wohngruppe usw. permanent mit den ganz normalen Ansprüchen an sie überfordert sind. An sie werden Erwartungen gestellt, die zu erfüllen sie einfach gar nicht imstande sind. Bedürfnisaufschub, Impulskontrolle, soziale Kompetenzen – woher sollen Kinder solche Verhaltensweisen beherrschen, wenn sie diese nie gelernt haben? Stattdessen haben sie eher gelernt, dass sie sich selbst nehmen müssen, was sie brauchen, denn keiner kommt und versorgt sie. Oder sie müssen sich selbst schützen und wehren, weil niemand da ist, der sie beschützt. Sie müssen laut schreien und stören, damit sie überhaupt ein bisschen Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen, selbst dann, wenn diese Aufmerksamkeit ausschließlich aus Beschimpfungen, Beleidigungen und Schlägen besteht.
Kinder sind Erwachsenen völlig ausgeliefert
Kinder sind ihren Eltern voll und ganz ausgeliefert. Sie haben keine Wahl und keinen Einfluss auf die Art und Weise ihrer Versorgung und Erziehung. Sie reagieren auf ihr Umfeld und lernen von dem, was sie erleben. Die angeblich bösen, schwer erziehbaren Kinder sind stets das Ergebnis ihres familiären Umfelds. Ihre Gewaltausbrüche sind immer ein Hilferuf. Im Fall der Filmfigur Benni gab es durchaus Menschen, die ihren Hilferuf gehört haben und versucht haben, ihr zu helfen, aber ihr dennoch nicht geben konnten, was sie braucht. Dabei lagen die Lösungsansätze auf der Hand, wie beispielsweise:
- verlässliche Kontakte zur Mutter statt ständig abgesagter Besuche
- eine zeitnahe Traumatherapie statt einer ewig langen Warteliste
- ein fester, sicherer Wohnort statt ständiger Wechsel der Wohngruppen
- ein klarer, geschlossener Rahmen statt unbeschäftigt und auf sich allein gestellt herumzuhängen
- aufrichtige Beziehungspartner statt überforderte, ausgepowerte oder genervte Pädagog*innen
- Ruhe, Natur und körperliche Auslastung statt ständiger Reizüberflutung und Langeweile
Worauf es wirklich ankommt
Benni und die Systemsprenger, die ich durch meine Arbeit als Familienhelferin kenne, sind extreme Beispiele dafür, was aus Kindern wird, deren Eltern sich nicht ausreichend um sie kümmern (können) oder ihnen sogar Schaden zufügen. Es macht deutlich, wie sensibel und fragil Kinder sind und welchen existenziellen Einfluss wir als Eltern auf unsere Kinder haben – im Schlechten wie im Guten.
Und deshalb sind Eltern,
- die ihre Kinder lieben, die Verbundenheit und Zuneigung für sie empfinden;
- die gern Zeit mit ihren Kindern verbringen und das Bedürfnis haben, ihre Kinder zu beschützen und zu versorgen (auch ein bisschen zu verwöhnen);
- die sich Gedanken machen um eine gute Förderung und Entwicklung ihrer Kinder, die darum ringen, angemessen zu erziehen;
- die ihren Kindern ein sicheres Zuhause und feste Bezugspersonen ermöglichen;
… das sind Eltern, die ihre Kinder wirksam darin unterstützen, zu selbstsicheren, glücklichen und mündigen Erwachsenen heranzuwachsen. Und darauf kommt es letztendlich an.
Titelbild von Wokandapix auf pixabay.com
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