Gedanken über das Denken
… oder: Warum uns Schubladendenken so leicht fällt.
Wie nehmen wir unsere Umwelt wahr? Was bleibt in Erinnerung, und wieso? Warum ist uns manches wichtig und anderes völlig egal? Wie unser Gehirn mit den vielen Eindrücken umgeht, wie wir uns im Dschungel der Informationen zurechtfinden – das habe ich einmal ansatzweise zusammengefasst.
Seit einem Jahr habe ich einen kleinen Account bei Instagram. Eigentlich hat mich alles Digitale jahrelang gar nicht interessiert, aber seit mein jugendlicher Sohn sich dort tummelt, wollte ich mir das auch mal genauer anschauen.
Schöne Instagram-Bubbles
Bei diesem Instagram ist mir aufgefallen, dass viele wirklich sehr schöne Bilder machen und es eine Freude ist, durch diese Feeds zu scrollen, dass jedoch solche Profile aber auch sehr einseitig sind. Also, ich meine natürlich, einheitlich, so stimmig und harmonisch. Wer viele Abonnenten haben will, der überlege sich, was ihn/sie ausmacht und was er/sie zeigen will. Und dann bleibe man dabei. Ich für meinen Teil habe das auch versucht, es hat nicht geklappt.
Inzwischen weiß ich ja, dass Instagram eine Werbeplattform ist. Für ein gutes Marketing ist das einheitliche Auftreten total wichtig, es soll die entsprechenden Assoziationen auslösen und zum Konsum anregen. Klaro. Profile, die etwas verkaufen oder influencen wollen, die können sogar immer wieder sehr ähnliche oder sogar die gleichen Bilder posten. Aber warum ist das so? Warum wollen wir Menschen es so gern einheitlich und harmonisch haben? Warum stören uns Kontraste?
Was mir in der digitalen Welt so deutlich aufgefallen ist, das gibt es auch im analogen Leben, wir begegnen auch dort dem Neuen, Fremden, Andersartigen erst mal eher skeptisch. Instagram und Co. sind wie eine Lupe auf unser soziales Miteinander. Aber warum?
Wie unser Gehirn tickt
Das liegt an unserer Gehirnstruktur. Wir speichern nämlich unser Wissen und unsere Erfahrungen in Kategorien ab – damit wir sie besser wiederfinden können. Je einfacher und klarer alles strukturiert ist, desto besser finden wir uns zurecht. Das hilft sehr beim Denken und Treffen von Entscheidungen. Andernfalls wären wir durch die tausenden Einflüsse aus der Umwelt, die in jeder Sekunde auf uns einprasseln, und die unzähligen Entscheidungen, die wir am Tag treffen müssen, völlig überfordert.
Unsere Sinne nehmen immer alles wahr: Hören, Riechen, Sehen, Fühlen. Dennoch können wir mit 30 Leuten in einer U-Bahn sitzen, ohne dass uns der Kopf platzt. Viele Impulse von außen dringen gar nicht in unser Bewusstsein ein, sie werden bereits vorher gefiltert. Das merken wir gar nicht. Wir nehmen nur die Eindrücke wahr, die für uns in diesem Moment relevant sind. Diese serielle Wahrnehmung ist im Übrigen der Grund dafür, warum wir plötzlich überall schwangere Frauen sehen, wenn wir gerade selbst versuchen schwanger zu werden. Oder überall nur schlanke Menschen, die Burger essen, während wir gerade mühsam eine Diät durchziehen.
Nur ganz kurz mal
Alle diese Eindrücke und Wahrnehmungen gelangen zunächst in unser Kurzzeitgedächtnis und werden, wie der Name schon sagt, nach kurzer Zeit erneut gefiltert: abspeichern oder vergessen. Im Durchschnitt kann ein erwachsener Mensch etwa sieben Informationen gleichzeitig im Kurzzeitgedächtnis verwalten.
Vorschulkinder übrigens deutlich weniger, weswegen komplexe Ansagen à la „Zieh dir bitte deine Schuhe und die Jacke an, und nimm die Winterstiefel; vergiss bitte die Handschuhe und die Mütze nicht; beeile dich, Mami muss los!“ eindeutig zu viele Informationen enthalten, als dass ein Kind sie sich merken oder sie gar alle befolgen könnte. Das Kurzzeitgedächtnis behält Informationen für eine sehr begrenzte Zeit, zwischen 20 Sekunden und 20 Minuten, je nach Training.
Forever and ever
Was wir dann behalten, behalten wir für immer. Es kommt ins Langzeitgedächtnis. Da bleibt es unser Leben lang, außer Teile des Gehirns verändern sich, beispielsweise durch einen Unfall, durch Drogen, eine Krankheit oder in der Pubertät. Letzteres ist kein Witz: In der Pubertät wird die Hirnstruktur derart radikal umgebaut, dass schon mal ein Teil (zumindest zeitweise) verloren gehen kann. Warum sonst sind Jugendliche wohl oft so komisch drauf und haben scheinbar alles verlernt, was ihre Eltern ihnen in den Jahren zuvor mühsam beigebracht hatten?
Das Langzeitgedächtnis kann man sich vereinfacht wie eine Kommode mit mehreren Schubladen vorstellen. Na gut, eher wie sehr, sehr viele Kommoden. Und Regale. Und Aktenschränke, dazu viele Kisten und Kartons. Alles in sehr vielen verschiedenen sehr großen Räumen. Damit wir also einen Gedanken oder eine Erinnerung im Gehirn präsent haben, wird alles in Kategorien abgespeichert. Diese Kategorien sind allerdings nicht zu vergleichen mit geordneten Karteikärtchen in alten Bibliotheken, sondern sie sind dynamisch und entwickeln sich unser ganzes Leben lang.
Entwicklung des Denkens
Jeder Mensch, jedes Gehirn hat sein individuelles Speichersystem. Menschen aus einem Kulturkreis und mit einer vergleichbaren Sprache bilden ähnliche Kategorien. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Sprachentwicklung und Gehirnstruktur. Babys und Kleinkinder haben noch gar keine Kategorien, in die sie ihre Erinnerungen abspeichern können. Für sie sind alle Eindrücke gleichermaßen relevant. Erst durch viele (sehr viele) Wiederholungen bilden sich dann Strukturen und Kategorien heraus. Dies erfolgt zeitgleich mit der Sprachentwicklung. Darum kann man überhaupt erst ab ca. 2 bis 3 Jahren eigene bewusste Kindheitserinnerungen haben.
Die Kehrseite der Medaille
Das Speichern der Erinnerungen und Gedanken in Kategorien hat viele Vorteile, aber leider auch einige entscheidende Nachteile. Viele einmalige und womöglich interessante, wichtige oder einfach nur wunderschöne Dinge nehmen wir nämlich gar nicht richtig wahr, weil wir sie schon aussortieren, bevor sie unser Bewusstsein überhaupt erreichen. Wie oft sind uns Vogelgezwitscher oder Kuchenduft, Gänseblümchen oder ein Lächeln in der Großstadt einfach entgangen? Schade.
Und selbst wenn wir etwas Neues entdecken und erleben, das es ins Kurzzeitgedächtnis schafft, dann wird es doch oft nicht abgespeichert, weil wir dafür einfach keine passende Kategorie haben. Neulich habe ich einen interessanten Text irgendwo gelesen, leider weiß ich nicht mehr, warum ich den so gut fand – einfach vergessen. Oder diese tolle junge Frau auf der Party, mit der ich mich unterhalten habe, wie war nochmal ihr Name? Weg. Menno.
Das war schon immer so
Viele Wahrnehmungen werden leider auch oft einfach in eine eher oberflächliche Schublade gesteckt. Die Informationen werden auf das Nötigste reduziert. Die Beobachtung, oder wohl besser die Bewertung der Beobachtung, ist dadurch einprägsam, klischeehaft, typisch; kurzum ein Stereotyp. Im Alltag ist das sehr hilfreich, denn dadurch können wir blitzschnell erkennen, ob um uns herum alles in Ordnung ist. Eine Eigenschaft, die für die frühen Menschen buchstäblich überlebenswichtig war.
Das Einsortieren in eine Kategorie geschieht meist ganz schnell, in einem Sekundenbruchteil. Zack. Leider wird unsere Wahrnehmung danach ganz eng, auch so eine Eigenart des menschlichen Gehirns. Wir nehmen die Dinge stärker wahr, die uns in der Wahl unserer Schublade bestätigen, und Abweichungen davon filtern wir einfach schnell aus. Das wiederholte Bedienen von Stereotypen verfestigt die klischeehaften Kategorien. Darum halten sich Stereotype auch so nachhaltig.
Schublade auf, Stereotyp rein
Negativ kann sich diese stereotype Wahrnehmung auf Menschen auswirken, die wir viel zu schnell in die entsprechende berühmte Schublade stecken. Dann werden aus Stereotypen ganz schnell Vorurteile. Wir sehen in der Kita die überforderte berufstätige Mutter, sehen die müden Augen, die ungekämmten Haare, das unerzogene Kind – war ja klar, die hat gar nichts im Griff, da sollte sie vielleicht doch besser zu Hause bleiben und den Job auf Eis legen.
Was wir ausblenden, ist die Tatsache, dass die gleiche berufstätige Mutter uns in den ganzen Wochen davor gar nicht aufgefallen ist, weil sie nämlich normalerweise alles ganz gut im Griff hat, trotz Vollzeitjob. Nur eben an diesem Morgen war es anders, weil ein plötzlicher Todesfall in der Familie sie aus der Bahn geworfen hat. Das hätte man an den verweinten Augen und der schwarzen Kleidung vielleicht erahnen können.
Uns fällt der große, laut pöbelnde dunkelhäutige Mann auf – lieber mal die Straßenseite wechseln! Bei solchen Menschen sollte man vorsichtig sein, die kommen ja auch einer ganz anderen Kultur, das merkt man ja schon an der aggressiven Art des Typen. Was wir ausblenden, ist der Job des Mannes, der sich als Sozialarbeiter gerade mit einem schwierigen Jugendlichen auseinandersetzt und dem einfach mal ein paar deutliche Worte mitgeben muss, natürlich in feinstem Berliner Slang, denn in dieser Stadt ist der Mann geboren und aufgewachsen. Das hätte man eigentlich hören können.
Dann sehen wir in der U-Bahn den alten Mann, der nach Kölnisch Wasser riecht, und übersehen sein verschmitztes Lächeln und die Bassgitarre neben ihm. Wir sehen am Morgen die müde Mutter mit dem Kleinkind, aber wir übersehen ihre elegante große Handtasche, in der sie die Unterlagen für das wichtige Meeting im Vorstand parat hat.
Schwarz-Weiß-Denken
Ein weiterer Nachteil unserer Art zu denken ist, dass wir durch das Kategorisieren oft nach Ausschlussprinzip vorgehen, also entweder-oder: alt oder jung, schön oder hässlich, schwarz oder weiß, Frau oder Mann, schlau oder dumm usw. Das eine schließt das andere aus! Genau so, wie wir einen Gegenstand nicht gleichzeitig in zwei verschiedene Schubladen legen können, so können wir auch nur bipolar denken. Und es kommt noch schlimmer.
In dieser Art zu denken gibt es immer ein Gefälle, eine Hierarchie, es gibt immer ein Oben und ein Unten. Das liegt in der Natur der Sache – also der Sache des Denkens. Diese Art zu denken führt dazu, dass sich Diskriminierung hartnäckig hält, obwohl alle Menschen gleichberechtigt sind – egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft, welcher politischen Anschauung, sexuellen Orientierung, welchen Glaubens oder welcher Behinderung auch immer. Die Hervorhebung der Exklusivität von sich gegenseitig ausschließenden Kategorien fördert letztlich stets die mitgedachte Hierarchie. Darum bin ich auch überhaupt kein Fan von Formulierungen wie „typisch Mann, typisch Frau“ usw.
Die Hervorhebung der Exklusivität von sich gegenseitig ausschließenden Kategorien fördert letztlich stets die mitgedachte Hierarchie.
Die gute Nachricht zum Schluss
Alle diese Kategorien und Stereotype sind nur in unserem Kopf. Sie sind keine real festgeschriebenen Naturgesetze. Wir selbst können unsere Schubladen immer verändern und erweitern. Passt etwas nirgends hinein, dann können wir einfach eine neue Kategorie entwickeln. Oder wir bilden gleich mehrere neue Unterkategorien. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Es erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit uns und unserer Welt, es erfordert eben Denken, Nach-Denken. Wir können das üben, z. B. indem wir
- unsere Wahrnehmung schärfen,
- uns zwischen Erleben und Bewerten einen kleinen bewussten Moment Zeit nehmen,
- Stereotype als solche erkennen und ihre Notwenigkeit für unseren Alltag immer mal wieder hinterfragen,
- uns an der Vielfalt erfreuen und neue Kategorien erschaffen.
Gerade in Hinblick auf die Be- und Verurteilung von Menschen, sollten wir uns diese Zeit nehmen. Jeder Mensch ist immer viel mehr als unsere Zuschreibungen über ihn. Auch wir selbst sind doch viel mehr als unsere Beschreibungen und unsere Profile. Wenn wir offen und unvoreingenommen bleiben, dann können wir viele neue spannende Menschen kennen lernen. Bei Instagram und in der realen Welt.
Titelbild von Christine Foetzki
POST COMMENT